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Ich bin kein Serienkiller

Ich bin kein Serienkiller

Titel: Ich bin kein Serienkiller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Wells
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beobachtete, seit ich am Heiligabend weggelaufen war. Für mich war es lediglich eine Gelegenheit, mit einem intelligenten Menschen zu reden.
    »Wie war Weihnachten?«, fragte Neblin und legte den Kopf schief. Das tat er immer, wenn er etwas verbergen wollte. In diesem Fall vermutlich die Tatsache, dass er von Mom längst alles über unser Weihnachtsfest erfahren hatte. Dr. Neblin war ein schrecklicher Lügner. Irgendwann musste ich mal mit ihm pokern.
    »Ich habe ein Szenario entwickelt, zu dem ich Ihre Meinung hören möchte«, begann ich.
    »Was für ein Szenario?«
    »Ein theoretisches psychologisches Profil«, sagte ich. »Ich habe über die Feiertage damit experimentiert, und jetzt hänge ich bei einem Problem fest.«
    »Okay«, willigte er ein. »Schieß los.«
    »Nehmen wir mal an, Sie sind ein Gestaltwandler«, sagte ich. »Sie können Ihr Gesicht verändern und tun und lassen, was Sie wollen, und sich jede äußere Form verleihen, die Ihnen gefällt. Jedes Alter, jede Größe, jede Nationalität. Stellen Sie sich weiter vor, Sie befänden sich in einer üblen Lage und seien zu Handlungen gezwungen, die Ihnen nicht gefielen. Wenn Sie alle die erwähnten Freiheiten hätten, welchen Grund gäbe es dann für Sie, den Aufenthaltsort nicht zu wechseln?«
    »Dabei geht es wohl um Kosten und Nutzen«, überlegte er. »Ich bleibe, wer ich bin, und ertrage die Schwierigkeiten, oder ich fliehe vor den Schwierigkeiten und verliere dabei mich selbst.«
    »Sie sind ja gar nicht Sie selbst«, wandte ich ein und zuckte zusammen, weil ich mich so ungeschützt fühlte. Ich öffnete Tür und Tor für jede Menge unbequeme Fragen. Vor allem dann, wenn er meinte, ich bezöge mich indirekt auf mich selbst. »Sie haben sich selbst vor langer Zeit verloren und wer weiß wie lange andere Persönlichkeiten angenommen.«
    »Auch dann geht es um die Identität«, erwiderte er. »Wenn ich ein anderer bin, ist das so gut, wie ich selbst zu sein? Wenn ich nicht mehr ich selbst sein kann, bin ich dann besser dran, wenn ich überhaupt niemand mehr bin oder wenn ich mir eine neue Persönlichkeit aussuche?«
    »Genau.« Ich nickte. »Sie könnten so lange Sie wollen ein und dieselbe Persönlichkeit haben, an einem Ort bleiben und immer das Gleiche tun, obwohl Sie es hassen, oder Sie können sich von allem befreien. Keine Verantwortung, keine Probleme, kein Ballast.«
    Er starrte mich an. »Willst du mir vielleicht etwas erzählen?«
    »Sie sollen mir sagen, was Sie in so einer Situation zum Bleiben veranlassen könnte«, beharrte ich. »Sie denken natürlich, es gehe um mich, aber so ist es nicht. Ich kann es nicht erklären. Aber jetzt mal ernsthaft. Auf der einen Seite haben Sie nichts und auf der anderen Seite alles. Warum sollten Sie bleiben?«
    Er dachte ein paar Minuten lang mit gerunzelter Stirn darüber nach und tippte mit dem Stift auf seinen Block. Deshalb ging ich gern zu Dr. Neblin. Er nahm mich ernst, ganz egal, was ich sagte oder wie verrückt ich ihm vorkam.
    »Noch eine Frage«, sagte er. »Bin ich ein Soziopath?«
    »Was?«
    »Es ist dein Rätsel«, sagte Neblin. »Wir haben schon oft darüber gesprochen, dass du starke soziopathische Neigungen hast. Ich will wissen, ob ich vor dem Hintergrund normaler Gefühle antworten oder von deren Fehlen ausgehen muss.«
    »Wo liegt der Unterschied?«
    Dr. Neblin lächelte. »Da hast du die Antwort. Du sagtest, die zweite Möglichkeit, nämlich wegzugehen und einfach ein neues Leben oder gar mehrere zu beginnen, bedeute so viel wie Freiheit. Es gebe dort keinen Ballast. Wo ein Soziopath Ballast sieht, könnte eine andere Persönlichkeit emotionale Bindungen sehen. Freunde, Angehörige, Geliebte. Nicht jeder kann seine Mitmenschen ohne Weiteres aufgeben. Sie definieren uns und machen uns zu dem, der wir sind. Manchmal machen uns die Persönlichkeiten in unserer Umgebung erst zu einem Ganzen.«
    Emotionale Bindungen. Geliebte Menschen.
    »Kay.«
    »Was?«
    »Ich … ich sagte ›okay‹.«
    Es war Kay Crowley. Mr Crowley liebte sie wirklich. Er tat nicht nur so, er benutzte sie nicht nur als Deckung, sondern er liebte sie aufrichtig. Ich hatte versucht, mich in Crowleys Lage zu versetzen, und es hatte nicht funktioniert, aber nicht etwa deshalb, weil sein Bewusstsein zu fremdartig war, sondern weil mein eigenes anders war. Der Dämon liebte seine Frau.
    »Ich muss gehen«, sagte ich.
    »Du bist doch gerade erst gekommen.«
    Crowley hatte es vielleicht schon hundert oder tausend Mal getan.

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