Ich blogg dich weg!
Mal nach den großen Ferien, aber quer über die Wand der hinteren Kabine stand mein Name. Julie. Er war wie eines dieser Kernwörter umkringelt, die wir immer in die Mitte schrieben, wenn wir an der Tafel eine Mindmap anlegen mussten. Mit derselben Schrift waren bereits zwei Assoziationen hinzugefügt: „arrogant“ und „hässlich“, genau wie wir es im Unterricht immer machen sollten. Eine andere hatte daraufhin ihren Bleistift hervorgekramt und sich die Mühe gemacht, „kann nicht singen“ dazuzuschreiben. Weil der Bleistift ziemlich dünn war, hatte sie ihre Buchstaben mehrmals nachgezogen. Weitere Assoziationsstriche warteten darauf, dass anderen Mädchen etwas zu mir einfiel, was sie dort eintragen konnten.
Ich klappte den Klodeckel herunter und setzte mich darauf. Es hatte längst zum zweiten Mal geklingelt, Schüler strebten in ihre Klassen, vereinzelt klapperten hohe Absätze über die Flure und irgendwann war es ganz still. Nur mein Herz klopfte laut und schmerzhaft.
Ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt in die Klasse zu gehen und so zu tun, als sei nichts passiert. Es kam mir so vor, als hätte ich keine Muskeln und Knochen mehr. Wie ein blasses Hühnerbrustfilet auf einem Schneidebrett saß ich auf dem Klodeckel. Ein bisschen schwabbelig. Mit einem scharfen Messer ganz leicht in Streifen zu schneiden.
Ich wartete noch ein paar Minuten, dann öffnete ich leise die Tür. Ich schlich – dabei musste ich das gar nicht – über den Flur und ging die Treppen hinunter. Das große Portal des Schulgebäudes stand halb offen und dahinter lag strahlender Sonnenschein. Ich ging mit schnellen Schritten über den Schulhof, so als hätte ich ein Ziel und müsste mich beeilen. Es kam mir so vor, als seien die hohen Fenster des alten Bertha-von-Suttner-Gymnasiums Augen, die mich verfolgten.
Ich ging hinunter in die Stadt, schlich durch die Fußgängerzone. Die Geschäfte waren noch geschlossen, aber die kleine Bäckerei an der Ecke verkaufte mir einen Kaffee im Pappbecher, mit dem ich mich auf eine Bank setzte. Die Sonne schien mir ins Gesicht und ich schloss die Augen. Mein Herz tat mir immer noch weh. Keiner sollte sehen, in was ich mich verwandelt hatte. Ich musste nachdenken, aber meine Gedanken jagten in meinem Kopf herum, ohne dass ich einen fangen konnte. Ich hätte jetzt nicht sagen können, wie und was ich genau dachte, außer dass ich nicht weinen wollte. Genau, ich wollte nicht weinen. Niemand sollte mir ansehen, wie elend es mir ging. Bis jetzt waren die Tage immer in eine helle und eine dunkle Hälfte aufgeteilt gewesen. Das war jetzt vorbei. Nun war die Dunkelheit überall.
Ich stand auf und trank den Kaffee aus. Dann machte ich mich auf den Heimweg. Um diese Zeit fuhr kein Bus zur Förstersiedlung, aber es tat mir gut, an der Hauptstraße entlangzugehen. Das Einzige, was ich hoffte, war, dass mein Vater schon ins Büro gefahren war.
Zu Hause ging ich in den Probekeller und setzte mich in den ausrangierten Sessel. Nach einer Weile hörte ich mir ein paar Probemitschnitte an, die wir vor einigen Wochen aufgenommen hatten. Ich hörte auf meine eigene Stimme, die voll und rein aus den Boxen drang. Das bin ich, dachte ich. Ich. Meine Augen wurden nass, weil meine eigene Stimme so gut klang. Und so selbstbewusst in dem, was sie ausdrückte. Vielleicht war ich ja wirklich eingebildet.
Ich hörte mir ein paar neuere Aufnahmen an und ärgerte mich über Mareks stümperhaftes Getrommel. In der Probe war mir das gar nicht so aufgefallen. Das brachte mich auf Lisa und ihren Mund, den sie heute Morgen so verzogen hatte. Hatte sie mich in Wirklichkeit ausgelacht? War sie das auf der Toilette gewesen? Ich stellte die Musik aus und blieb noch für einen Moment in dem stillen Probekeller sitzen. Aber sobald ich versuchte nachzudenken, fuhren meine Gedanken wieder Karussell in meinem Kopf.
Ich nahm meinen Bikini und fuhr mit dem Rad zum Waldsee. Das Wasser fühlte sich auf meiner Haut eiskalt an und ich schwamm Runde um Runde, immer hin und her, und zum Schluss legte ich mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Der Himmel über mir war strahlend blau. Dann schwamm ich wieder, immer weiter und weiter, bis ich völlig erschöpft war.
Am späten Nachmittag kamen meine Eltern nach Hause und wir aßen zusammen. Sandra fragte mich, wie es in der Schule gewesen war, und ich log ihr vor, dass es nichts Besonderes gegeben hätte. Mein Vater war mit seinen Gedanken schon wieder bei den Akten, die sich auf dem
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