Ich durchschau dich!: Menschen lesen - Die besten Tricks des Ex-Agenten (German Edition)
zwei weitere Informanten aus dem Umfeld von Sarai-Reisen wären perfekt gewesen. Doch sie quasi über Nacht anzuwerben und aufzubauen war unmöglich. Ein solcher Prozess, beginnend beim Tipp, der gründlichen Überprüfung, über den ersten Kontakt, die Ansprache, die Kultivierungsphase, bis hin zur fruchtbaren Zusammenarbeit, dauert Wochen und Monate. Zudem sind Kandidaten mit dem Potenzial zum V-Mann rar gesät. Wer selbst zu tief mit drinsteckt oder wer zu hoch in der Hierarchie steht, scheidet aus. Sonst müsste sich der Geheimdienst später
den Vorwurf gefallen lassen, die kriminelle Organisation selbst zu steuern oder, schlimmer noch, zu finanzieren. Schlechte Karten für ein angestrebtes Strafverfahren. Auch all diejenigen, deren egoistische oder ideologische Motive zu stark ausgeprägt sind, scheiden aus. Sie wären nicht führbar, würden vielleicht im Einzelfall verwertbare Informationen liefern, aber immer nur dann, wenn sie sich dadurch einen konkreten Vorteil erarbeiten. So würden wir den Bock zum Gärtner machen. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall einträte und wir in der Kürze der Zeit einen passenden Kandidaten gefunden hätten, müsste er in der Lage sein, für uns weit hinter die Kulissen zu blicken. Das schaffen nur wenige. Und wenn es einer kann, ist es in der Regel nicht sein erster Gedanke, für den Geheimdienst zu arbeiten. Sein innigster Wunsch schon gar nicht. Ihn dazu zu bringen, es trotzdem zu tun, klappt nicht von heute auf morgen. Informationen fließen erst, wenn er weiß, woran er bei uns ist. Wenn er gelernt hat, uns zu vertrauen. Erst dann fließen 08/15-Informationen, später 007-Informationen. Tichow war schneller, aber er war auch ein Spezialfall.
Sabine und ich schnürten ein Maßnahmenbündel, um die fehlende Zeit so gut wie möglich zu kompensieren. Wir würden alles auffahren, was operativ möglich war: gezielte Steuerung der bestehenden V-Männer, dichter ran an Bülent & Co., breit angelegte Observationsmaßnahmen und Verdichtung der vorhandenen Informationen durch umfangreiche Auswertung aller verfügbaren Quellen – notfalls nachts und an den Wochenenden, die in unserem Job ohnehin nur auf dem Papier existieren. Für eine Telefonüberwachung fehlten noch die rechtlichen Voraussetzungen. Wir durften zwar einiges, aber eben nicht alles, solange stichhaltige Beweise fehlten.
Dienstag, 28. September, Tag eins unserer vier Wochen, kurz vor Feierabend
Sabine pinnte ein Foto des AL an die Wand.
Fragend schaute ich sie an.
»Das motiviert mich«, gestand sie mir.
Die Stecknadel war exakt in der Mitte zwischen den Augen des AL platziert. Sicher nur ein Zufall.
Sabine bemerkte meinen Blick. »Das dritte Auge«, ließ sie mich wissen. »Mehr sehen, als zu sehen ist.«
»Du oder er?«, fragte ich.
»Wir«, sagte sie.
Nachdenklich nickte ich.
»Wir brauchen eine KW«, sprach Sabine aus, was ich dachte.
KW ist die gebräuchliche Abkürzung für Kontaktwohnung – eine konspirative Wohnung, vom Geheimdienst unter Legende angemietet, um dort Quellen zu treffen, Material zu übergeben, Einsätze zu steuern oder Zielobjekte zu beobachten. Im Bereich südöstlich des Münchner Hauptbahnhofes, wo sich das Büro von Sarai-Reisen befand, konnten wir unmöglich observieren. In der Landwehrstraße, der Schwanthaler Straße und den angrenzenden kleinen Nebenstraßen wohnen und arbeiten überwiegend Südländer aus dem Balkan sowie der Türkei. Das Treiben dort erinnert an das Leben in diesen Regionen. Türkische Gemüsehändler neben traditionellem Fast Food, neben Import-Export, neben arabischem Callshop, neben Gebetsraum, neben Sarai-Reisebüro, neben Zockerbude, neben Teehaus, neben Balkan-Shop, neben Badehaus. Das bunte Leben findet auf der Straße und auf den Plätzen statt. Bei fast jedem Wetter. Ein geschäftiges, entspanntes Multikulti. Jeder kennt jeden. Als Westler sticht man zwar nicht sofort heraus, aber man ist eher die Ausnahme als die Regel. Und als Westler, der
minutenlang eine Zigarette anzündet oder in Schaufenster starrt oder gar in einem geparkten Wagen wartet und dabei etwas zu beobachten scheint, ist man innerhalb von Minuten Tagesgespräch. Ganz schlechte Voraussetzungen für eine klassische Observation. Hier muss man sich etwas mehr einfallen lassen, um nicht aufzufallen. Das kennen wir übrigens nicht bloß aus solchen Gegenden, sondern auch aus ländlichen Gebieten. Dörfer haben Augen und Ohren für alles, was nicht dorthin gehört
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