Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
angeboten, und sie hat sich nicht mal bedankt. Und ich habe dich auf dem Gehweg stehen sehen, als der Bus losfuhr.«
Mir stockt der Atem.
»Und erinnerst du dich an diese eine Woche in der fünften Klasse, als Danas Eltern sich beinahe scheiden ließen? Da kam Dana jeden Tag ohne Essen in die Schule, und du hast ihr deines angeboten.« Er hielt inne. »Nach dieser Woche hat sie dich dann wieder übersehen.«
Ich kann immer noch nicht atmen.
»In der siebten ist Shelly Morrison dabei erwischt worden, dass sie aus deiner Mathearbeit abschrieb. Sie kreischte rum, dass ihr Vater sie umbringen würde, wenn sie die Arbeit verhauen würde. Und du hast der Lehrerin gesagt, du hättest bei Shelly abgeschaut. Du hast eine Sechs in der Arbeit gekriegt und musstest eine Woche lang nachsitzen.« Er hebt den Kopf, schaut mich aber nicht an. »Danach hattest du noch wochenlang blaue Flecken auf den Armen, und ich habe mich immer gefragt, wo die herkamen.«
Mein Herz schlägt viel zu schnell. Bedrohlich schnell. Ich falte die Hände, damit sie nicht zu heftig zittern. Beiße die Zähne zusammen und bemühe mich um eine ausdruckslose Miene. Aber mein tobendes Herz will nicht langsamer werden.
»Zigtausendmal«, sagt er, ganz leise. »Zigtausendmal habe ich dich so handeln sehen. Aber gesprochen hast du nur, wenn du dazu gezwungen wurdest.« Er lacht, doch es klingt hart und bitter, und er starrt über meine Schulter ins Leere. »Du hast niemals jemanden um etwas gebeten.« Er schaut mich an. »Man hat dir allerdings auch nie etwas angeboten.«
Ich schlucke, will den Kopf wegdrehen, aber er nimmt mein Gesicht in die Hände.
»Du hast keine Ahnung, wie oft ich an dich gedacht habe«, flüstert er. »Wie oft ich davon geträumt habe –«, er holt tief Luft, »wie oft ich davon geträumt habe, dir so nah zu sein.« Er hebt die Hand, als wolle er sich durchs Haar streichen, lässt sie dann wieder sinken. Schaut zu Boden. Schaut auf und sieht mich an. »Gott, Juliette, ich würde dir überallhin folgen. Du bist das einzig Gute, was es noch gibt auf dieser Welt.«
Ich flehe mich an, nicht in Tränen auszubrechen, und weiß nicht, ob es funktioniert. Ich bin alles Zerbrochene und mühsam Geklebte, und ich werde überall rot und habe kaum die Kraft, Adam in die Augen zu schauen.
Er berührt mein Kinn, hebt es an.
»Wir haben maximal drei Wochen Zeit«, sagt er ganz leise. »Ich glaube nicht, dass sie die Aufstände noch länger im Griff behalten werden.«
Ich nicke. Blinzle. Lege mein Gesicht an seine Brust und tue, als würde ich nicht weinen.
3 Wochen.
24
2 Wochen vergehen.
2 Wochen mit Kleidern, Duschen, Essen, das ich am liebsten quer durchs Zimmer schmeißen würde. 2 Wochen mit Warner, der lächelt, meine Taille umfasst, der lacht und mir die Hand in den Nacken legt, um mich zu lenken, der dafür sorgt, dass ich perfekt aussehe an seiner Seite. Er hält mich für seine Trophäe. Seine Geheimwaffe.
Und ich muss den Impuls unterdrücken, seine Knöchel auf Beton zu schmettern.
Aber ich genehmige ihm 2 Wochen Zusammenarbeit, weil Adam und ich in einer Woche verschwunden sein werden.
Hoffentlich.
Doch in dieser Zeit habe ich herausgefunden, dass ich Warner nicht so sehr hasse, wie ich geglaubt hatte.
Ich bedauere ihn.
Er scheint meine Nähe seltsam tröstlich zu finden; er glaubt, ich kann ihn und seine verdrehten Vorstellungen verstehen, seine grausame Geschichte, seinen abwesenden und zugleich fordernden Vater.
Über seine Mutter verliert Warner nie ein Wort.
Adam meint, über Warners Mutter wisse niemand etwas – keiner weiß, wer sie ist, und es wird nie über sie gesprochen. Man weiß nur, dass Warner unter härtesten Bedingungen aufgewachsen ist und zu bedingungsloser Machtgier erzogen wurde. Er hasst glückliche Kinder und glückliche Eltern und deren glückliches Leben.
Ich glaube, Warner denkt, dass ich all das nachvollziehen kann. Dass ich ihn verstehe.
Ich verstehe ihn auch. Und zugleich verstehe ich ihn nicht.
Weil wir uns nicht ähnlich sind.
Ich will ein besserer Mensch sein.
Adam und ich haben nur nachts Zeit füreinander. Und auch dann nicht viel. Warner beobachtet mich von Tag zu Tag schärfer; dass die Kameras entfernt wurden, macht ihn noch misstrauischer. Er kommt ständig überraschend in mein Zimmer, macht überflüssige Rundgänge durch das Gebäude mit mir, redet nur von seinen Plänen und seinen Plänen, noch mehr Pläne zu machen, und davon, wie wir zusammen die Welt erobern werden.
Weitere Kostenlose Bücher