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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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dadurch zu
beruhigen, dass ich nach einem Buch griff, über seinen Umschlag strich und es
an einer beliebigen Stelle aufschlug. Wieder und wieder las ich die Worte, bis
ich fähig war, sie auszusprechen. Ganz gleich, was da stand, das laute Lesen
machte mir eine einfache Wahrheit bewusst, die ich während der ganzen Jahre in
Birchtown verleugnet hatte: Ich würde May nie wiedersehen, und es war an der
Zeit weiterzuziehen.
    Wir bildeten
ordentliche Schlangen auf dem Kai von Halifax. Gegen Wind und Regen
zusammengedrängt, warteten wir darauf, zu den Schiffen hinausgerudert zu
werden, und unterhielten uns leise. Einer von dreien, ob Mann oder Frau, war
wie ich in Afrika geboren. Einschließlich der Kinder waren wir
eintausendzweihundert. Fünf Tage dauerte es, bis der Sturm nachließ. Ich kam
mit John Clarkson, dem Schiffsarzt, den schwangeren Frauen und kränkelnden
Abenteurern auf die Lucretia . Am 15. Januar 1792 lichteten unsere
fünfzehn Schiffe die Anker und stachen Richtung Sierra Leone in See.

BUCH VIER

Ein Toubab mit schwarzem Gesicht
    {Freetown, 1792}
    Auf meinem
Schiff, der Lucretia , starben während der Überfahrt sieben der einhundertfünfzig
Passagiere. John Clarkson kam fast selbst um, als er sich in einem Sturm am
eigenen Erbrochenen verschluckte, konnte aber gerettet werden. Er blieb den
Großteil der Reise ans Bett gefesselt, hatte sich jedoch wieder gefangen, als
wir am 9. März 1792 in die St. George’s Bay segelten. Ich suchte die grünen
Berge ab. Aus meiner Kindheit erinnerte ich mich an den Umriss eines Löwen,
seines Rückens und Kopfes. Sierra Leone, das Löwengebirge, wuchs so scharf
konturiert auf der Halbinsel auf, dass ich die Hand ausstrecken und es berühren
wollte.
    Ich wusste, dass ich
vor sechsunddreißig Jahren mit dem Sklavenschiff von Bance Island in See
gestochen war. Ich hatte die Insel auf der Karte gefunden, und Clarkson hatte
mir gesagt, dass sie zu Sierra Leone gehöre. Aber bis ich die Küste mit dem
Löwengebirge sah, zweifelte ich daran, tatsächlich an den Ort meiner Abreise
zurückzukehren. Es schien mir zu viel, um darauf hoffen zu können.
    Die Neuschottländer
umarmten sich gegenseitig auf dem Deck der Lucretia und lobpriesen Jesus und John Clarkson
mit lauten Rufen.
    »Bitte, das genügt«,
rief Clarkson lachend, aber beschämt.
    »Erzählen Sie uns mehr
von diesem Land, in das Sie uns bringen«, rief eine Frau.
    »Ich fürchte, es geht
mir wie den meisten von euch«, antwortete Clarkson, den Blick auf die Küste
gerichtet. »Ich war noch nie in Afrika.«
    Ich starrte ihn an und
spürte, dass ich nicht die Einzige war. Es war mir nie in den Sinn gekommen,
dass dieser Mann, der Organisator unseres Auszugs aus Neuschottland, meine
Heimat noch nie gesehen haben könnte.
    Um das Schweigen zu brechen,
holte einer von Clarksons Offizieren ein Fässchen Rum heraus und schenkte
Männern wie Frauen ein Glas ein. Ich wollte nicht trinken, mir war nicht nach
Lachen. Ich stand allein an der Reling des Schiffes, drückte die Hände auf das
glatte Holz, spürte die feuchte Brise auf meinem Gesicht und fragte mich, was
jetzt aus mir werden würde. Ich hatte damit gerechnet, außer mir vor Freude zu
sein, fühlte mich jedoch wie entleert. Wellen schlugen gegen die Küste Afrikas,
aber meine wahre Heimat war immer noch weit außer Sicht, und sollte ich es je
bis nach Hause schaffen, wusste ich schon, was mich die Leute fragen würden: Wo ist dein Mann? Wo sind deine Kinder? Und ich würde ihnen gestehen müssen,
dass ich mich nur selbst aus dem Land der Toubabu hatte retten können.
    Die Überfahrt hatte
fast zwei Monate gedauert, aber das Warten hatte immer noch kein Ende. Während
die fünfzehn Schiffe unserer Flottille aus Halifax Anker warfen und wir drei
Tage lang in der afrikanischen Sonne brieten, wurde Clarkson zwischen unseren
und einer Handvoll anderer Schiffe hin- und hergerudert, die bereits im Hafen
gelegen hatten. Ich konnte sehen, dass auch sie unter der Flagge der Sierra
Leone Company segelten – zwei verschränkten Händen, einer schwarzen und einer
weißen.
    Ich war erleichtert,
dass es befreundete Schiffe waren, aber Thomas Peters schimpfte laut auf sie.
Peters erinnerte uns gerne daran, dass er derjenige war, der die Übersiedlung
überhaupt erst möglich gemacht hatte, indem er vor zwei Jahren nach England
gefahren war, um sich darüber zu beklagen, dass die schwarzen Loyalisten in
Neuschottland immer noch ohne Land waren.
    Jetzt hatte er etwas
Neues zu

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