Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
sitzen, Jule und ich machten es uns auf der Hinterbank gemütlich und riefen »steuerbord« oder »backbord« und anderes Schifferlatein. Wenn Papa scharfe Kurven fuhr, krähten die Kinder vor Vergnügen. Später, als Karlheinz uns Fotos schickte und Simon darauf seinen Vater erkannte, machte er sofort »brrm-brrm« und ahmte das Geräusch des Bootsmotors nach.
Simon war zu dieser Zeit sechzehn Monate alt, Julika fast drei Jahre. Mit ihr spielte Karlheinz oft Theater oder tanzte mit ihr auf dem Arm. Einmal warf Julika am Mittagstisch etwas, das sie nicht essen mochte, einfach hinter sich in die Luft. Wir hatten ja beim Picknicken den Möwen auch oft kleine Essensreste zugeworfen. Stockhausen, in Fragen der Kindererziehung sonst eher streng, fand das toll und rief begeistert: »Ein Genie, das Kind!«, woraufhin Julika mit den Worten »Noch ein Genie!« den ganzen Teller mit viel Schwung in die Höhe warf. Da war dann wieder ein Tänzchen mit ihr fällig. Programmierte der Vater seine Kinder so zu originellen Auftritten? Mussten sie immer etwas Einfallsreiches bieten, um von ihm belohnt zu werden? Denn einfach nur Menschen zu sein, das konnten sie von ihm kaum lernen. Abgesehen von schlichten Abend- oder Tischgebeten gab es keine Anleitung zu richtigem, gar moralischem Verhalten; das war in seinen Augen Aufgabe der Mutter.
Das sehr geräumige Haus hatte auch einen abenteuerlichen Keller mit einem direkten Zugang zum Wasser. Dort spielten wir gern Verstecken, Seeräuber oder Schmugglerbande. So waren wir einen Monat lang eine fröhliche, glückliche Ferienfamilie.
In dieser Zeit hatten wir auch Besuche von Musikern, Malern und anderem Künstlervolk. Stockhausen kannte ja schon viele der US -Künstler von seinen Besuchen bei mir während meiner vorangegangenen Amerikaaufenthalte. Wir verwöhnten unsere Gäste mit Musik und mit Kulinarischem. Der Long Island Sound war voller Fische und Hummer, und daraus machten wir oft wahre Festessen.
Ich erlebte zum ersten Mal, wie es wäre, als einzige Frau an der Seite von Stockhausen zu stehen. Die Gesellschaft war hier nicht gespalten in Menschen, die mich ablehnten oder mochten, indem sie für die jeweils erste oder zweite Ehefrau Partei ergriffen.
Den Höhepunkt des Spätsommers in Guilford bildete Ende September der Besuch von Leonard Bernstein, dem weltbe rühmten Leiter des New York Philharmonic Orchestra. Wir kannten ihn ja schon lange, aber nie zuvor waren mir seine Riesenohren so aufgefallen wie jetzt hier. Mir kamen sie vor wie zwei große Auffangschalen, geschaffen, um alles Hörbare zu absorbieren. Es war früher Abend. Sofort begannen die beiden Vollblutmusiker zu fachsimpeln, ein Wort gab das andere. Bernstein vertrat die Meinung, dass sich die musikalische Grammatik und Syntax bei allen Völkern auf die gleichen Grundlagen zurückführen ließe, dass es also eine musikalische Ursprache gebe: Im Anfang war der Ton, die Frequenz, der Klang. Nicht das Wort. Es wurde über Atonalität und die Rückbesinnung zur Tonalität gesprochen.
Dann ging es um den Quintenzirkel, den Kompromiss des wohltemperierten Klaviers, die Obertonreihung, um Vierteltonschritte und noch kleinere Übergänge, die elektronisch ja einfach zu bewerkstelligen seien. Bald kam die Rede auf Mozart und die Kadenzrhythmik, auf Modulationen und darauf, wie spielerisch und zugleich meisterhaft Mozart von einer Tonart in die andere habe überleiten können. Jetzt verstand ich, was Stockhausen so an Nicky Hopkins in Kalifornien bewundert hatte.
Zur Verdeutlichung ihrer Aussagen sangen sie sich Mozarts Melodien vor, beispielsweise das Thema aus der g-Moll-Sinfonie . Bernstein dirigierte, während er sang, dann stürzte er ans Klavier und spielte die Melodie. Er zitierte eine Passage nach der anderen. Dann wieder erläuterte Stockhausen seine Theorie der Kadenzrhythmik anhand von Beispielen.
Noch standen beide. Ich hatte mich mit den Kindern auf ein Sofa gesetzt und ihnen mit dem Finger auf den Lippen bedeutet, leise zu sein. Schließlich rückte Stockhausen einen zweiten Hocker ans Klavier, und nun gaben die beiden sitzend ein Mozart-Konzert zu vier Händen. Sie griffen sich oft über Kreuz in die Tasten. Wenn es holprig wurde, griff der jeweils andere dieses Holpern auf und integrierte es in das, was sich gerade anschickte, Musik zu werden. Es war mir, als wäre ich bei einer Geburt anwesend, einer Sternstunde der Musik. Selten zuvor in meinem Leben war ich so ergriffen gewesen. Mir liefen die Tränen
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