Ich, Heinrich VIII.
ich meinte. Dann sah er sich fragend im Zimmer um.
»Es ist niemand hier, Cromwell«, sagte ich. »Ihr mögt frei heraus sprechen.« Zum Beweis meiner Worte – und weil ich beschwingter Laune war (in letzter Zeit unterlagen meine Stimmungen erschreckenden Schwankungen; oft war ich nach dem Frühstück von Euphorie erfüllt und versank dann bis zum Nachmittag in tiefer Düsternis, ganz gegen meine Art) – ging ich zu einem Wandteppich und schlug dagegen. Nichts als Staub kam daraus hervor.
Ich setzte mich auf einen kleinen Schemel; Cromwell nahm daraufhin ebenfalls Platz und zog seinen Schemel dicht zu mir heran.
»Folgendermaßen, Euer Gnaden. Ich habe die Frage ausführlich studiert. Meiner bescheidenen Meinung nach geht es in dieser Angelegenheit um sehr viel mehr als nur um Eure Ehe. Die Ehe war lediglich Gottes Werkzeug, Euch die Augen für andere Ideen zu öffnen, Euch dazu zu bringen, das bisher Undenkbare zu erwägen.«
»Nämlich?«, fragte ich. Er griff zu Schmeicheleien, wie so viele vor ihm. Es langweilte mich. Der Duft von Bier und Aal wehte herüber. Er sollte zur Sache kommen!
»Nämlich, dass einige Eurer Untertanen nur zur Hälfte Eure Untertanen sind, Euer Gnaden.« Er hielt inne und hob bedeutsam eine Braue. Es sollte mein Interesse fesseln, aber es war bloß albern. Ich runzelte die Stirn, und hastig fuhr er fort. »Der Klerus. Er leistet dem Papst ein Gehorsamsgelübde. Wie soll er Euch da loyal untertan sein? ›Man kann nicht zwei Herren dienen‹, wie unser Herr …«
»Ja, ja.« Ich fiel ihm ins Wort. »Aber das war immer so. Das himmlische und das irdische Königreich sind zweierlei.«
»Wirklich, Euer Gnaden? Wenn ein Untertan in Todespein beschließt, einem ausländischen Herrscher vor seinem König zu gehorchen – was ist daran himmlisch? Ist es nicht Verrat?« Eine Pause. »Haben Euer Gnaden nicht die Verantwortung für alle Eure Untertanen? Hat Gott sie nicht in Eure Hände gegeben, auf dass Ihr sie beschützet? In alten Zeiten gab es keine Päpste, sondern nur christliche Fürsten, denen es oblag, den Wahren Glauben …«
Und er legte mir seine außergewöhnliche Theorie dar: Dass der Regent eines jeglichen Reiches von Gott bevollmächtigt sei, seine Untertanen an Leib und Seele zu beschützen; dass er in beiden Sphären die höchste Autorität im Lande sei; dass der Klerus ihm Gefolgschaftstreue schulde, nicht dem Bischof von Rom, der nichts als ein Usurpator sei. Wenn ich seine Macht wieder an mich zöge, erneuerte ich damit lediglich die alte, richtige und gottgewollte Ordnung der Dinge.
»Es ist, wie Gott es will«, schloss Cromwell. »Er ist unzufrieden mit dem Zustand, der heute herrscht. Es ist eine Verdrehung der Wahrheit. Darum haben sich Propheten wie Wycliffe und Hus und Luther erhoben. Darum ist Rom erniedrigt worden und der Papst zu einem zitternden Gefangenen des Kaisers geschrumpft. Das alles sind Zeichen. Zeichen dafür, dass Ihr handeln und die rechtmäßige Ordnung der Dinge wiederherstellen müsst. Wo nicht, werden die Strafen härter werden. Denkt, was in Israel geschah, als Ahab …«
»Ja, ja.« Ich konnte dem Hunger nicht länger widerstehen und griff nach einem Becher Bier. »Eine interessante Theorie«, sagte ich schließlich. »Worte. Wolsey war auch voller Worte. Was ist mit Taten?«
Ich war neugierig, zu erfahren, ob er sich auch darüber Gedanken gemacht hatte. Und ich wurde nicht enttäuscht. Cromwell beugte sich eifrig nach vorn, und in seinen Eidechsenaugen spiegelte sich das Licht der Morgensonne.
»Das Volk stöhnt unter der Last dieser monströsen Bürde«, sagte er.
Ich musste ihn von seiner extravaganten Redeweise kurieren. Konnte denn kein Mensch außer Anne in schlichten Worten zu mir sprechen?
»Aber es kann sich nicht aus eigener Kraft davon befreien. Nur einer vermag die Fesseln zu lösen. Der König.«
Ich grunzte. »Wie?«
»Das Volk wird Euch nachfolgen, wie die Kinder Israels Moses nachgefolgt sind.«
Dieses letzte Bildnis war endgültig zu viel. Wieso sollte ich mir nicht gestatten, mich am Aale gütlich zu tun? Dieser Möchtegern-Rhetor verdiente keinen Respekt. Ich beugte mich hinüber und nahm mir ein schmackhaft aussehendes Stück. »Bitte sprecht unverblümt«, sagte ich schließlich.
Er grinste – etwas, das in meiner Gegenwart seit Jahren niemand mehr getan hatte. Die kriecherischen Übertreibungen fielen von ihm ab wie ein schwerer Mantel, und seine Stimme tat einen Satz. »Der Klerus ist unfähig, sich zu
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