Ich, Heinrich VIII.
schmerzenden Glieder sich zu regen begannen. Ich war taub und steif gefroren und hatte rasenden Hunger. Das Feuer war fast erloschen, und draußen heulte der Wind noch immer. Steifbeinig trat ich an den Höhlenausgang und spähte hinaus. Der Schnee lag hüfttief, und die Wehen türmten sich an manchen Stellen so hoch wie Goliath. Bis Beaulieu waren es gewiss noch zwanzig Meilen. Konnten wir es bis zum Sonnenuntergang erreichen?
Nach weniger als einer Stunde saßen wir kläglich im Sattel und bahnten uns schwankend den Weg durch die Schneewehen. Die Fledermäuse waren ohne Zweifel froh, ungestört in der Finsternis weiterschlummern zu dürfen. Ich fragte mich, ob es klug gewesen war, dass wir es verschmäht hatten, sie zu verschmausen, so ekelhaft die Vorstellung auch sein mochte.
Gegen Mittag war es klar, dass es töricht gewesen war, sich hinauszuwagen. Wir waren keine fünf Meilen weit gekommen, und auf dem unebenen Boden mit der tückischen Schneedecke war es unmöglich, schneller zu reiten. Wir waren gezwungen, uns mühsam vorwärtszutasten, und zitternd vor Erschöpfung saßen wir auf unseren geschwächten Pferden. Beaulieu hätte ebenso gut in Schottland liegen können; es hätte uns nicht weniger nützen können. Am Horizont war keine Spur davon zu sehen; da war überhaupt nichts außer Leere und einer schmalen Straße, die auch nur deshalb zu erkennen war, weil eine Steinmauer sie säumte.
Die Männer schwiegen; ein jeder klammerte sich an seinen Sattel und betete zu seinem Gott. Chapuys silberbeschlagener Sattel erschien mir als Inbild falscher Sicherheit, entlarvend für uns nicht weniger als für ihn selbst, untauglich zu allem in dieser weißen Wildnis, aber spöttisch blinkend.
Ein Windstoß fuhr mir geradewegs ins Gesicht. Meine Augen brannten und tränten, und der Horizont schimmerte, verschwamm und klärte sich wieder. Aber in der Unschärfe hatte ich etwas gesehen, oder ich glaubte doch, etwas gesehen zu haben. Ich blinzelte und mühte mich, es noch einmal zu entdecken. Ja, da war wirklich etwas … und schwebte eine verwaschene Rauchwolke darüber?
»Da. Vor uns«, grunzte ich. Meine Lippen waren aufgesprungen und bluteten, obwohl ich sie mit Fett beschmiert hatte.
Cromwell fuhr auf und unterdrückte dann ein Lächeln. Er weiß es schon, dachte ich. Er weiß, was es ist, und es freut ihn, dass ich es selbst entdeckt habe.
»Was liegt da vor uns?«, fragte ich.
»Sankt Osweth.« Er hatte die Antwort parat.
Ein kleines Kloster – eines, das Cromwells Agenten bereits aufgesucht und für besonders verkommen erklärt hatten. Die Papiere, die es zur Auflösung verurteilten, lagen mit anderen auf dem Intarsienschreibtisch in meinem Gemach und harrten meines königlichen Siegels.
»Welch wunderbare Vorsehung«, sagte ich und zog mein Pferd herum. »Vor uns liegt ein frommes Haus!«, rief ich meinen Männern zu. »Wir werden dort einkehren.«
»Die braven Brüder werden zweifellos erstaunt sein, eine königliche Reisegesellschaft willkommen zu heißen«, meinte Cromwell.
»Zweifellos.« Ich dankte dem Himmel für die Lage des Klosters, wenn schon nicht für seine Moral, und lenkte meinen Hengst darauf zu. Der matte Fleck am Himmel, der die Sonne darstellte, war bereits auf halbem Wege zum Horizont.
Das Gebäude war roh und baufällig. Ringsherum sah ich nicht die säuberlich behauenen Zäune und ordentlichen Äcker aus meiner Fantasie, sondern die Unordnung eines Hurenhofes.
Cromwell pochte an die Pforte wie der rächende Erzengel beim Jüngsten Gericht. Die Tür öffnete sich knarrend, und ein Geiergesicht äugte heraus.
»Der König ist da«, verkündete Cromwell.
Man muss dem Geier zugute halten, dass er seine Pforte sogleich stolz aufriss und uns mit einer Gebärde willkommen hieß, als habe er uns erwartet. Die dicke Kapuze und der blinkende Kreis der Tonsur oben auf seinem Schädel verliehen ihm eine wahrhaft frappante Ähnlichkeit mit diesem Vogel.
Der Geruch von Verwesung, kaum hatte ich den Vorraum der Priorei betreten, war so stark, dass ich mich fragte, wovon sie sich hier ernährten.
»Ich werde den Prior holen«, sagte der Geiermönch und verbeugte sich tief.
Würgend zwang ich mich, den fauligen Geruch zu ertragen. Es war warm hier drinnen. Nur darauf kam es an.
Der Geier kehrte zurück, und mit sich brachte er einen der fettesten Männer, die ich je gesehen hatte. Er schwang die Beine in Halbkreisen und bewegte sich so in einer Folge von wunderlichen Halbwendungen voran,
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