Ich, Heinrich VIII.
Aber während Ihr beim Gebet wart, entfloh Catherine ihren Bewachern und wollte Euch in der Kapelle aufsuchen. Sie konnte sich der Garde entziehen und lief die Lange Galerie in Hampton hinunter. Sie kam bis an die Tür der Kapelle, wo sie sich Euch zu Füßen werfen wollte. Aber gerade als sie den großen Türknopf drehte, wurde sie wieder ergriffen. Dann …«
»Dann rief sie mich«, ergänzte ich langsam.
»Sie hoffte, Ihr würdet sie hören. Sie war so kühn, sogar Euren Vornamen zu gebrauchen, was selbst mir nicht erlaubt ist. Sie setzte alles auf eine Karte. Aber es misslang. Sie wurde weggezerrt, ehe sie die Tür öffnen und Euch in Eurer Andacht stören konnte.«
»Trug sie Weiß?«, fragte ich dumpf.
»Aye.«
»Also war sie wie eine Jungfrau gekleidet.«
Und so würde sie erscheinen, in Ewigkeit. Die Jungfrau-Hure. Ich hatte richtig gesehen.
»Sie versuchte, Euren Sinn für Sentimentalität anzusprechen.«
Meine »Sentimentalität« war also wohl bekannt – eine Schwäche, die man auszunutzen suchte. Gab es an einem König nichts, was man nicht auszunutzen suchte? Von meiner »Sentimentalität« bis zu meinem Stuhlgang nach dem Essen?
»Ich werde sie immer als Jungfrau sehen.« Das stimmte; das war ja das Schmerzliche daran. Aber was war mit dem Geist? Hatten andere ihn auch gesehen?
»Letzte Nacht wurde ich von dieser Erscheinung heimgesucht«, gestand ich. »Die gleichen Schreie, die gleichen Rufe meines Namens. Diesmal öffnete ich die Tür und schaute selbst hinaus in die Galerie. Ich sah es.«
Brandon runzelte die Stirn. »Gab es noch andere Zeugen?«
»Nein.«
»Dann stellt eine Wache auf. Sonst werdet Ihr wirklich noch wahnsinnig, und dann hat sie erreicht, was sie sich vorgenommen hat.«
Ich nickte.
»Sie hasst Euch«, sagte Brandon. »Sie will Euren Untergang. Vergesst das nicht. Durchkreuzt ihre Pläne.«
»Aber warum ausgerechnet Catherine?«, brach es aus mir hervor. »Warum niemand anderes? Ich schwöre Euch, niemand sonst hat gewagt, aufzustehen und umzugehen!« Ich wagte nicht, die Namen zu nennen, um sie nicht doch heraufzubeschwören. Buckingham. Anne. George Boleyn. More. Fisher. Aske. Smeaton. Weston. Norris. Brereton. Dudley. Empson. Neville. Carew. Cromwell. De la Pole. Margaret Pole.
»Sie waren nicht vom Bösen besessen«, erwiderte er geschmeidig. »Nur der Böse verleiht Macht über das Grab hinaus.«
»Aber Anne …«
Darauf wusste er keine Antwort. »Vielleicht ist ihre Seele in ihrer Cousine Catherine wiedererstanden.«
Ich zitterte so heftig, dass ich nicht aufhören konnte. Brandon umschlang mich mit seinem mächtigen, schweren Arm. »Die Liste dessen, was Ihr bereut, ist länger als bei jedem anderen Mann«, sagte er langsam. »Aber man lebt damit. Man wird nicht wahnsinnig und versinkt auch nicht in Melancholie.« Mein Zittern hörte nicht auf; es wurde immer heftiger. »Reue. Keiner nimmt sich vor, am Ende eine Liste von Dingen vor sich zu haben, die er bereut. Es liegt einfach in der menschlichen Natur.«
Vater, inmitten seiner blutigen Taschentücher – wie hatte ich ihn verachtet.
»Und was jetzt?« Wild schüttelte ich den Kopf. »Ich bin jetzt also da, wo gewöhnliche Menschen auch hinkommen. Aber was tut ein König dann?«
»Ein König spuckt auf die Reue«, lachte Brandon.
Da fing auch ich an zu lachen, und das Zittern hörte auf.
Ich stellte sechs nüchterne Soldaten aus Kent als Wache in die Lange Galerie. Ich achtete ausdrücklich darauf, dass es stumpfsinnige und irreligiöse Männer waren, und gab ihnen den einfachen Befehl, die ganze Nacht über Wache zu halten; alle zwei Stunden sollten sie einander ablösen.
»Denn es heißt, dieser kalte Winter habe eine ungewöhnlich große Zahl von Ratten genötigt, in den Hohlräumen unter der Galerie Zuflucht zu nehmen. Wenn es so ist, muss ich es wissen, damit geeignetes Gift ausgelegt werden kann, ehe sie im Frühjahr anfangen, sich zu vermehren. Habt ihr verstanden?«
Sie nickten.
»Was immer sich an Ungewöhnlichem regt«, wiederholte ich.
Sie nickten. Hatten sie wirklich verstanden?
Ich fand meine Geschichte äußerst schlau. Kein Wahnsinniger konnte so schlau sein. Es klang völlig logisch, und ich würde doch erfahren, was ich wissen wollte.
In der zweiten Nacht hörte ich den Geist. Sein Schreien war ganz deutlich zu vernehmen. Ich öffnete die große Tür einen Spaltbreit und schaute hinaus … und sah die Erscheinung. Sie sah aus wie Catherine, aber es war nicht Catherine. Es
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