Ich, Heinrich VIII.
Lateinischen.« Er verbeugte sich und ließ mich im grauen Licht des frühen Morgens auf dem Dach stehen. Erst später fiel mir ein, dass ich ihm nicht die Erlaubnis gegeben hatte, sich zu entfernen.
Am nächsten Tag um die Mittagszeit wurde mir ein wunderschönes Exemplar des Neuen Testamentes in griechischer Sprache überbracht; dabei lag eine Notiz von More: »Was hier geschrieben steht, hat mir Trost wie Unruhe geschenkt, aber ich glaube, es ist wahr.«
Ungeduldig blätterte ich, bis ich die Stelle im Evangelium des hl. Markus gefunden hatte. Zwei Stunden lang plagte ich mich, um sie genau zu übersetzen; meine Kenntnisse des Griechischen waren dieser Aufgabe nur knapp gewachsen. Es hieß: »Wiederum führte aber der Teufel ihn auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Königreiche dieser Welt in ihrer ganzen Pracht; und er sagte zu ihm: Alles das will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Jesus aber sagte zu ihm: Hebe dich von hinnen, Satan.«
Ich übersetzte Wort für Wort und geriet dabei in immer größere Glut. More sah also einen Teufel in mir, welcher verlangte, dass alle Welt ihn anbete? Ich hatte nichts weiter getan, als ihn zu bitten, als Rechtsanwalt an den Hof zu kommen und mir gelegentlich Gesellschaft zu leisten. Was war daran böse? Ich wollte ihm ein Astrolabium schenken – ein einfaches Ding, das ihm bei seinem geliebten Studium der Astronomie nützlich sein würde. Eine unsterbliche Seele war wohl kaum der Gegenwert. Und unausgesprochen (aber die Stelle, die er ausgesucht hatte, machte es deutlich) sah er sich als Christus. Ich der Teufel, er Christus?
Zitternd schob ich den griechischen Text von mir. More hatte mich zutiefst beunruhigt, wie es zweifellos auch in seiner Absicht gelegen hatte. Aber weniger um mich selbst war mir bang, als vielmehr um ihn: Ich befürchtete, er sei im Geiste gestört und von Sinnen.
XVI
I ch beschloss, More zu vergessen. Was tat es schon, wenn er es vorzog, nicht an den Hof zu kommen, und sich stattdessen lieber mit seinen gelehrten Freunden in seinem Haus zu Chelsea traf? Die Einzigen, bei denen es wirklich etwas bedeutet hätte, wenn sie sich mit Vorbedacht geweigert hätten, an den Hof zu kommen, wären die großen Adeligen gewesen – der Herzog von Buckingham etwa, oder der Graf von Northumberland oder der Graf von Surrey. Aber die kamen, allesamt, und schworen mir Gefolgschaftstreue. (Ich »domestizierte« sie, wie Wolsey es nannte. Wolsey wusste immer das treffende Wort.)
Aber selbst wenn ich gewollt hätte (und ich wollte es ganz bestimmt nicht!), hätte ich mir nicht lange über More den Kopf zerbrechen können, denn sehr viel wichtigere Ereignisse nahmen ihren Lauf. Die Franzosen setzten ihre kriegerischen Unternehmungen fort und stellten Maximilians und Ferdinands Geduld auf eine harte Probe, denn beide sahen sich durch ihre Ehre an den Vertrag von Cambrai gebunden. Der Papst hingegen hatte Ludwig öffentlich gebrandmarkt und mich, Maximilian und Ferdinand um Beistand angerufen. Er hatte Ludwig exkommuniziert und ganz Frankreich mit einem Interdikt belegt: Es gab dort keine Messen mehr, keine Taufen, keine Trauungen und keine Beerdigungen. Ein furchtbarer Zustand, aber die so genannte Allerchristlichste Majestät war offenbar nicht über Gebühr beunruhigt und offenbarte sich damit unzweifelhaft als Abtrünniger. Denn wer konnte ohne die Sakramente leben?
Musste ich Frankreich den Krieg erklären? Hatte ich eigentlich noch eine Wahl? Die Ehre erforderte, dass ich es tat. Aber die Armee …
Anders als andere Staaten hatte England kein stehendes Heer; immer wenn ein Krieg zu führen war, musste eines ausgehoben werden. Eine uralte Verordnung verlangte, dass jeder gesunde Mann einsatzbereite Kriegswaffen verwahrte und bereit war, dem Ruf zur Fahne unverzüglich zu folgen – kurz, es gab eine nationale Miliz. Tatsächlich aber verfügten nur wenige Haushalte über die erforderlichen Waffen, und dort, wo es sie gab, waren sie nicht selten veraltet oder in schlechtem Zustand.
Ich erließ deshalb eine Proklamation (eine der ersten, die für die allgemeine Bevölkerung von Bedeutung war) und befahl, dass jedermann sich an das Gesetz halte und die entsprechenden Waffen anschaffe. Manch einer murrte über die Kosten, die ihm dadurch entstanden.
Will:
Eine merkwürdige Eigenheit Englands, die von Ausländern häufig kommentiert wurde: Während die Könige anderer Länder die Zahl der Waffen zu begrenzen trachteten und dafür
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