Ich kann dich sehen: Thriller (German Edition)
weiter an der Schulter fest, holte den Schlüssel heraus und öffnete die Tür. »Spring rein, und mach die Tür von innen zu.« Sie wartete, bis sie das Schloss hörte, warf seinen Rucksack in den Kofferraum, blieb an der Fahrertür stehen und warf noch einmal wütend einen prüfenden Blick auf die Straße. Niemand beobachtete sie, niemand hing herum, niemand sah aus den Fenstern. Wie zum Teufel war der Umschlag in ihre Tasche gekommen?
»Wo fahren wir hin?«, fragte Cameron.
Liv fuhr an der Abzweigung zu ihrer Straße vorbei und beobachtete den Verkehr hinter sich. »Wir fahren eine Runde.«
»Kaufen wir ein Milchshake?«
»Mal sehen.«
Hatte jemand den Umschlag in ihre Tasche gesteckt, während sie am Schultor gewartet hatte? Als die Tasche an ihrer Schulter hing? Nein, das war unmöglich. Er musste schon da gewesen sein, als sie das Büro verlassen hatte, die Tasche hatte seit heute Morgen auf ihrem Schreibtisch gelegen. Das bedeutete, das Schwein war am helllichten Tag in ihrem Büro gewesen.
»Was ist, Mom?«
»Was, was?«
»Du bist …«, schnaufte Cameron.
»Was bin ich denn?«
»Hey, schau mal, da ist eine Eisdiele.« Er beugte sich nach vorne, fuchtelte mit den Armen herum und schrie: »Ben!«
Ein Klassenkamerad stand vor dem Geschäft, seine Mutter stand mit einem kleineren Kind drinnen an der Theke. Neiderfüllt verzog Liv das Gesicht. Sie wäre am liebsten an den Rand gefahren, hätte sich zu ihnen gesellt und ihrem Sohn ein Eis gekauft, doch das ging nicht, weil ein wütender Mann sie vielleicht sehen und beschließen könnte, dass sie noch nicht verängstigt genug war. »Nächstes Mal, Cameron. Ich verspreche es dir.«
Ihr Handy klingelte, sie drückte auf die Freisprechanlage auf dem Armaturenbrett.
»Liv, hier ist Rachel Quest. Wo sind Sie?« Sie hörte sich angespannt an.
»Ich sitze mit meinem Sohn im Auto, also achten Sie auf Ihre Wortwahl.«
»Alles in Ordnung?«
»Ich weiß nicht, jedenfalls bin ich nicht verletzt. Wissen Sie Näheres?«
»Ich bin noch am Tatort. Als ich die Adresse über Funk gehört habe, bin ich gleich hingefahren. Daniel sagte, Sie würden ein paar Anrufe erledigen, aber im Büro waren Sie nicht. Ich war schon kurz davor, eine Suchmeldung rauszuschicken.« Sie lachte ein wenig, doch es klang eher erleichtert. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Sie müssen sich ansehen, was ich heute wieder erhalten habe.«
Rachel traf ein, als Cameron sein Milchshake runterschüttete, als würde man es ihm wegnehmen, wenn er es nicht in einem Zug austrank. Liv winkte sie zum Tisch, an dem sie vor zwei Tagen mit Daniel gesessen hatte, und stellte Cameron Rachel als Arbeitskollegin vor. Er winkte ihr zu und widmete sich wieder dem Strohhalm in seinem Becher. An Rachels Gürtel steckte eine Pistole im Halfter. Für Liv bedeutete das, dass sie in Sicherheit waren.
Rachel bestellte einen Kaffee am Tresen und setzte sich zu ihr. »Ich habe gerade mit dem Krankenhaus telefoniert. Teagans Zustand ist kritisch.«
Liv schloss die Augen. Cameron schlürfte sein Getränk aus. Sie fuhr mit den Fingern durch seine weichen Locken und dachte daran, was Teagans Familie gerade durchmachte.
»Liv, tut mir leid, dass ich Ihnen diese Neuigkeiten überbringen muss.«
Sie schüttelte den Kopf. »Schatz, bist du fertig?«
»Jawohl.«
»Hast du Hausaufgaben, mit denen du schon mal anfangen könntest?«
»Oooch, Mom. Darf ich mit Mitch spielen?«
»Mit wem?«
Cameron zeigte auf einen Jungen am Nebentisch, der dieselbe graue Uniform wie er trug. Er wippte gelangweilt mit den Beinen, während seine Mutter auf der Tastatur eines Laptops herumtippte.
»Okay, aber bleib in der Spielecke, wo ich dich sehen kann.« Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung des abgetrennten Bereiches auf der anderen Seite des Cafés. Als der andere Junge zu ihm kam, warf seine Mutter ihr über den Rand des Laptops einen dankbaren Blick zu. Liv holte die beiden Drohbriefe aus ihrer Tasche und legte sie vor Rachel auf den Tisch. Sie tippte mit der Fingerspitze auf den Plastikumschlag und registrierte die Nervosität in ihrer Stimme. »Heute Morgen.« Dann zeigte sie auf den noch verschlossenen Umschlag. »Heute Nachmittag.«
Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah Rachel an. »Jemand hat mir eine Warnung geschickt, meine siebzehnjährige Mitarbeiterin von einem Parkdeck geworfen, ist dann am helllichten Nachmittag in mein Büro gekommen, hat die untere Schublade meines Schreibtisches aufgemacht und einen
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