Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
keine detaillierten Erinnerungen an die einzelnen Ereignisse dieses Tages. »Vermutlich über die Arbeit.«
Bisher hatte ich nie den Mut, den Gesprächen von Hicks und Luke zuzuhören. Das ging mir zu nahe, war mir zu unangenehm, und ich hatte auch eine Scheißangst davor. Wenn Hicks ihm so direkt gegenübersteht, überragt er Luke, dabei habe ich Luke immer für groß gehalten. Doch jetzt wirkt er nicht nur kleiner, sondern auch älter, und er könnte eine Ermahnung meiner Mutter zur richtigen Haltung vertragen: »Schultern zurück, Brust raus, Liebling.« Die graublauen Schatten unter seinen Augen wirken wie eintätowiert, und er braucht noch dringender als sonst einen frischen Haarschnitt. Sogar Lukes Wohnung sieht schlimm aus. Die Handtücher sind schmuddelig und liegen unordentlich herum, und auf der Hockeyausrüstung hat sich eine so dicke Staubschicht gebildet, dass ich meinen Namen hineinschreiben könnte, wenn solche Albernheiten in der Ewigkeit gestattet wären. Außer einem Major Grey’s Mango-Chutney, das wahrscheinlich noch aus der britischen Kolonialzeit stammt, ist der Kühlschrank leer. Lukes Gefrierschrank dagegen ist gut gefüllt, mit Stolichnaya, Absolut und drei weiteren Wodkamarken mit kyrillischem Etikett sowie mehreren unangebrochenen Eiscremepackungen.
Seit mein erkalteter Körper unter der Erde liegt, hat Luke jeden Job angenommen, der ihm angeboten wurde, sogar einen im tiefsten Wisconsin. Jede Flucht war besser, als in New York zu hocken. Doch das erklärt das Durcheinander in seiner Wohnung nur zum Teil. Er ist nicht einfach nur mit der Hausarbeit im Rückstand, sondern er ist tieftraurig – traurig und voller Schuldgefühle.
In der Rolle des guten Cop ist Hicks am erfolgreichsten, wenn er einfach gar nichts sagt und darauf hofft, dass der Befragte die unangenehme Situation irgendwann nicht mehr erträgt und miteiner unerhörten Enthüllung aufwartet. Mit dieser Methode hat er eine 6 2-prozentige Erfolgsrate, heute funktioniert sie nicht. »Es gab eine Zeit, da liebte ich Molly zutiefst und wurde von ihr genauso geliebt«, sagt Luke. »Das will ich nicht abstreiten. Diese Erinnerungen halte ich in Ehren.« Luke erlaubt sich nicht, die dazugehörigen Bilder vor sich aufsteigen zu lassen, sondern hält sie im Archiv seiner geistigen Festplatte gut unter Verschluss. »Aber davor und danach – und währenddessen – waren wir auch Kollegen. Und genau das waren wir, als sie starb.«
Hicks hört sich das kommentarlos an.
»Eine Zeitlang, vielleicht ein paar Wochen, habe ich geglaubt, dass wir für immer zusammenbleiben würden.« Zwei Alte, die sich gegenseitig daran erinnern, den Cholesterinsenker und das Blutdruckmittel zu nehmen, die jede einzelne Falte des anderen lieben und die verlegte Lesebrille für ihn suchen. »Es war unerträglich, dass wir uns wegen irgendeines kosmischen Schlamassels erst kennenlernten, als sie schon verheiratet war.«
Mit diesem Idioten.
Wären wir uns früher begegnet, wäre alles anders gekommen – der Autoaufkleber jedes falschspielenden Mannes,
denkt Hicks.
Aber egal, was für ein Arschloch der Ehemann ist, nur ein schwacher, blöder Mistkerl stellt einer verheirateten Frau nach. Und das weiß ich genau, weil ich selbst schon dieser Mistkerl gewesen bin.
Diese letzte Überlegung von Hicks finde ich fast so interessant wie Lukes Gedanken:
Molly war mit einem Mann verheiratet, der sie nicht zu würdigen wusste, mit einem Mann, der sie nie verstanden hat.
»Hatten Sie beide vor, zusammenzuziehen?«, fragt Hicks.
»Nie«, erwidert Luke entschieden, etwas zu prompt für meinen Geschmack. »Das haben Sie schon so oft gefragt, Detective. Ich war nur der Geliebte. Molly hätte ihren Ehemann nie verlassen.«
Zumindest nicht für mich.
»Obwohl ich lügen müsste, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich gelegentlich darauf hoffte.«
Wir wärenin ein Brownstone-Haus gezogen, vielleicht in Brooklyn, und hätten dekadente Pastagerichte gekocht. Ich hätte Annabel die Straße hinunter zur Schule begleitet, ihr das Fotografieren beigebracht und Weihnachtslieder, wenn wir bei meinen Eltern in New Hampshire zu Besuch gewesen wären. Und wenn Annabel das Wochenende bei Barry verbracht hätte, wären Molly und ich übereinander hergefallen und kaum aus dem Bett gekommen.
Hicks’ Gedanken schweifen ebenfalls ab, zu einer gewissen Lola, einer Frau, die so viel kultivierter, gebildeter und unendlich viel verheirateter war als er. Nach seinen nie ausgelebten
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