Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
in ihrem Haar riechen. »Was meinst du, wie wäre es mit einem Bad, Annie-Belle? Und dann essen wir Abendbrot, okay? Aber jetzt mach erst mal die Augen zu. Ganz fest.«
»Eine Überraschung?«, kreischte sie.
»Nur, wenn du die Augen ganz fest zulässt«, sagte ich und trug Annabel in ihr Zimmer. Luke trat leise auf Strumpfsocken aus dem Schlafzimmer, zuckte die Achseln und warf mir eine Kusshand zu, ehe er sich die Schuhe anzog, nach seiner Jacke griff und aus der Wohnung schlich, ohne die Tür zu schließen, damit Annabel sie nicht ins Schloss fallen hörte. »Lass die Augen ganz fest zu«, warnte ich sie zweimal.
Auf ihrem Bett wartete bereits seit ein paar Stunden ein Geschenk. Während Annabel das Papier aufriss, begann ich in rasender Eile das Wohnzimmer aufzuräumen. Dabei entdeckte ich, dass Luke seine Digitalkamera vergessen hatte. Ich lief ins Schlafzimmer und versteckte sie in der Kommodenschublade unter meiner Unterwäsche.
Erst spätabends – nach Annabels Bad, Hähnchen-Nuggets, dreimaligem Vorlesen ihrer brandneuen ›Fancy Nancy‹ und einem fünfminütigen Telefongespräch mit Barry – holte ich die Kamera wieder heraus und sah mir die Bilder an, bevor ich sie wie üblich löschte. Da konnte man es sehen, Foto um Foto, eins kompromittierender als das andere. Schuldig, schuldiger, am schuldigsten.
27
Der Zeuge
Manchmal braucht man einen Zeugen, um sich bestätigen zu lassen, dass man tatsächlich das sieht und fühlt, was man sieht und fühlt. Deshalb habe ich Bob gebeten, mich zu begleiten. Wir folgen Hicks zu einem Coffee Shop in der Nähe seines Apartments. Über pochierten Eiern, Vollkorntoast und drei Bechern Kaffee (zwei Löffel Zucker, viel Milch) blättert er die inzwischen recht umfangreiche Akte durch und überprüft Anruflisten von Handys und Kreditkartenabrechnungen – sowohl meine (habe ich wirklich so viel für die Wachsenthaarung meiner Beine ausgegeben?) als auch die von Barry, Lucy, Luke, Stephanie, Brie, Isadora und sogar die meiner Eltern. Auf der Akte steht nicht »Verdächtige« drauf, aber das sind sie wohl. Hier und da umkringelt Hicks ein Datum oder eine Telefonnummer, oder er malt sorgfältig ein Fragezeichen dahinter.
»Danke, Louise«, sagt Hicks und legt einen Fünfdollarschein als Trinkgeld hin.
»Lösen Sie den Fall«, erwidert die Kellnerin. »Schnappen Sie den Mistkerl.«
»Ich werd’s versuchen.«
Dies ist der erste Fall, den ich allein bearbeite, und den werde ich nicht verpatzen wie diesen Christina-Rivera-Fall, der inzwischen eiskalt ist. Es geht nicht nur um mein Ansehen im NYPD und um meine Zukunft,
denkt er.
Ich fange an, diese Molly zu mögen. Sie erinnert mich an Franny, die weiße Studentin auf dem College, mit der auszugehen ich nie gewagt habe. Dabei hat sie, wie ich heute weiß, heftig mit mir geflirtet. Ich hab’s nur nicht gemerkt, weil ich so fixiert darauf war, dass ich sowieso nicht in Frage komme. Franny, die in ihrem klapprigen V W-Käfer von einem Truck niedergemäht wurde. Franny, Molly, liebenswert, einsam …
Ich strahle Bob an.
Jetzt geht Hicks zu seinem Auto, einem Honda Civic, der so unauffällig ist, dass auf dem Kennzeichen auch gleich »Polizei« stehen könnte. Er fährt in die Innenstadt auf die Höhe der 60er-Straßen und flucht, weil man in der Gegend, seit Mr. Trump und seine Kumpane all diese Hochhäuser dort hingestellt haben, als Besucher kaum noch einen Parkplatz findet. Doch er hat Glück und findet eine Lücke auf der West End Avenue. Er geht auf die Nullachtfünfzehn-Hochhäuser zu, die ihre Schatten auf den Hudson werfen.
»Dein Hicks«, sagt Bob, »hat eine gute Aura.«
»Du kannst Auren sehen?« Wie die wohl aussehen, frage ich mich. Wie Wolken? Wie gewöhnlicher bläulicher Ozonnebel? Vielleicht benutzt Bob das Wort aber auch metaphorisch, und eine Aura ist so schwer zu verstehen wie Kierkegaards Satz: »Das Leben muss rückwärts gerichtet verstanden, aber vorwärts gelebt werden.«
»Sie umhüllt ihn«, sagt Bob, der meine Gedanken liest. »Eines Tages gelingt es dir vielleicht auch, eine Aura zu erkennen. Es ist ein Upgrade, das manche von uns bekommen.«
»Falls meine Kräfte nicht nachlassen?«
»Musst du das wirklich noch fragen?« Bob findet immer wieder einen Weg, mir direkt oder indirekt zu sagen:
Nichts ist von Dauer.
Als ob irgendwer hier in der Ewigkeit daran erinnert werden müsste. So gern ich Bob auch mag, der Gute könnte einen Schuss Ironie vertragen.
Seit ich Hicks das erste
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