Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
einen Monat lang wurde die Hölle nur noch schlimmer.
»Wann hörst du endlich auf, ständig zu flennen? Das geht mir auf die Nerven!«, schimpfte er eines Tages mit rasendem Blick und drohender Faust.
»Wenn du mich nach Hause zu meinen Eltern lässt!«, antwortete ich hilflos und vergrub das Gesicht in meinen Händen.
Ob meiner Hartnäckigkeit gewährte er mir erneut eine Atempause.
»Aber das ist das letzte Mal«, warnte er mich.
Als ich wieder bei meinen Eltern war, wurde mir klar, dass mir nicht viel Zeit blieb, um etwas zu unternehmen, falls ich diesen Mann loswerden und dem Alptraum entgehen wollte, nach Khardji zurückkehren zu müssen. Fünf Tage vergingen. Fünf schwierige Tage, an denen ich ständig das Gefühl hatte, gegen eine Wand zu reden. Weder mein Vater noch meine Brüder oder Onkel waren bereit, mich anzuhören.
Ich wollte nichts unversucht lassen, in der Hoffnung, auf ein offenes Ohr zu stoßen, und so landete ich schließlich bei Dowla, der zweiten Frau meines Vaters. Sie wohnte mit ihren fünf Kindern in einer winzigen Wohnung im ersten Stock eines verwahrlosten Mietshauses in einer Sackgasse, direkt gegenüber von unserer Straße. Von der Angst getrieben, wieder nach Khardji zurückgeschickt zu werden, stieg ich die Treppe hoch und kniff mir die Nase zu, um nicht den Modergeruch einatmen zu müssen, der sich mit dem Gestank vom Müll und vom Kot der Gemeinschaftstoiletten vermischte. In ihrem langen, rotschwarzen Kleid öffnete mir Dowla mit einem breiten Lächeln die Tür.
»
Ya
Nojoud! So eine Überraschung, dich hier zu sehen. Herzlich willkommen!«, sagte sie und winkte mich herein.
Ich mochte Dowla. Sie hatte dunkle Haut und lange Haare, die sie zu Zöpfen flocht. Sie war groß, schlank und schöner als
Omma
. Dowla schimpfte nie mit mir. Sie war die Geduld in Person, obwohl die Arme vom Leben nicht gerade verwöhnt worden war. Sie war spät, erst mit zwanzig, verheiratet worden. Mein Vater hatte sie vollkommen vernachlässigt, und so hatte sie gelernt, nur auf sich selbst zu zählen.
Ihr Ältester, Yahya, acht Jahre, war von Geburt an behindert, konnte nicht laufen und benötigte besonders viel Aufmerksamkeit. Bisweilen erlitt sie Nervenkrisen, die mehrere Stunden andauerten. Obwohl sie so arm war, dass sie betteln gehen musste, um ihre 8000
Rial
Miete zu bezahlen und für ihre Kinder Brot zu kaufen, besaß Dowla einen unheimlichen Großmut.
Sie bot mir einen Platz auf dem großen Bett aus Stroh an, das den halben Raum ausfüllte, direkt neben dem kleinen Kocher, auf dem sie Wasser heiß machte. Meistens ersetzte Tee die Milch im Fläschchen ihrer Kleinen. Die mit Haken an der Wand angebrachten Plastiktüten, die ihr als Vorratsschrank dienten, waren spärlich gefüllt.
»Nojoud«, sagte sie, »du machst mir aber eine besorgte Miene.«
Ich wusste, dass sie zu den wenigen Familienmitgliedern gehörte, die sich gegen meine Heirat ausgesprochen hatten, doch hatte ihr niemand Gehör geschenkt. Sie, mit der das Leben es nie gut gemeint hatte, empfand von jeher eine Zuneigung zu denen, die noch bedürftiger waren als sie. An ihrer Seite fühlte ich mich ganz unbefangen. Ich wusste, dass ich ihr alles erzählen konnte.
»Ich habe dir eine Menge zu erzählen«, erwiderte ich und schüttete ihr mein Herz aus.
Sie runzelte die Stirn und hörte sich meine Geschichte an. Sie schien zutiefst verärgert. Nachdenklich wandte sie sich zum Kocher. Dann schüttete sie den brühend heißen Tee in die einzige Tasse in der Wohnung, die Yahya noch nicht zerbrochen hatte. Sie hielt sie mir hin und rückte an mich heran, um mir direkt in die Augen zu schauen.
»Nojoud …«, flüsterte sie. »Wenn dich niemand anhören will, dann geh doch einfach zum Gericht!«
»Wohin?«
»Zum Gericht!«
Zum Gericht? … Aber ja, zum Gericht! Blitzartig schossen mir Bilderfetzen durch den Kopf. Bilder von Richtern mit Turban, von Anwälten, die es immer eilig haben, von Männern in weißer Tunika und verschleierten Frauen, die hier ihre komplizierten Familien-, Diebstahls- und Erbschaftsgeschichten vorbrachten. Klar, jetzt erinnerte ich mich wieder an das Gericht. Ich hatte schon mal eines im Fernsehen gesehen. Das war in der Serie, die ich mir mit Haïfa immer bei den Nachbarn anschaute. Die Schauspieler sprachen ein anderes Arabisch als im Jemen. Ihrem Akzent nach, so erinnerte ich mich vage, musste es eine Serie aus Kuwait sein. Der große Saal, in dem die Kläger der Reihe nach antraten, hatte weiße
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