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Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden

Titel: Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nojoud Ali , mit Delphine Minoui
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richtig begreift, dass dieser Mann ihr großer Bruder ist, der uns verlassen hat, als sie noch ein ganz kleines Baby war.
    Außer dem kurzen Anruf aus Saudi-Arabien, zwei Jahre, nachdem er weggelaufen war, haben wir nichts von ihm gehört. Bis zu dem unerwarteten Anruf eines Abends im letzten Monat.
Omma
hat vor Freude aufgeschrien, als sie seine Stimme erkannte. Wir haben uns gegenseitig den Hörer aus der Hand gerissen, um ihn für einen kurzen Moment zu hören. Er klang so weit weg, so weit, doch es hat mir das Herz erwärmt, ihn noch am Leben zu wissen.
    »Alles in Ordnung bei dir?«, hat mein Vater, den Tränen nahe, ihn mit erstickter Stimme gefragt.
    Aba
wollte alles von Fares wissen. Für wen er arbeitet. Ob es ihm dort gefällt, er gut verdient. Statt zu antworten, hat mein Bruder nur immer wieder die gleiche Frage wiederholt, eine Frage, die ihn offenbar sehr beschäftigte: »Aber ihr, wie geht es euch?«
    Das Wort »euch« hat er dabei stark betont. »Ich mache mir große Sorgen um die Familie. Ich habe da Geschichten gehört … Bitte, sagt mir, dass alles in Ordnung ist.«
    Er war besorgt, das hörte man seiner Stimme an. Aber um was? Er erklärte uns, dass ihm dort in der Ferne Gerüchte um unsere Familie zu Ohren gekommen seien. Ganz weit weg, in diesem Saudi-Arabien, das ich noch nicht einmal auf der Karte zeigen konnte.
    Offenbar hatten ihm Leute, die aus dem Jemen kamen, berichtet, dass wir Probleme hätten, ohne Genaueres zu wissen. Und dann ist Fares eines Tages auf ein Foto von mir und meinem Vater in einer Zeitung gestoßen. Da er nie richtig zur Schule gegangen ist – er hat es schon im ersten Jahr aufgegeben –, konnte er den Artikel nicht lesen. Desto mehr hat ihn die Geschichte beschäftigt, so sehr, dass sie ihn um den Schlaf gebracht hat.
    Ich bin verblüfft. Gerüchte, die von Reisenden verbreitet werden. Ein Foto in einer Zeitung. Sollte das etwa heißen, dass die Nachricht von meiner Scheidung sich über die Grenzen meines Landes verbreitet hatte? Da Fares so drängte, fasste ihm
Aba
rasch die Ereignisse der letzten Monate zusammen.
    »Nun verstehe ich alles etwas besser«, antwortete mein Bruder.
    »Fares, mein Sohn, bitte, komm nach Hause zurück!«, bettelte meine Mutter schluchzend.
    »Ich kann nicht, ich habe dort Arbeit«, erwiderte er. Und dann war das Gespräch mit einem Mal unterbrochen.
    Dieses Telefongespräch hatte vielleicht zehn Minuten gedauert, doch das genügte, um
Omma
in die tiefste Verzweiflung zu stürzen. In den Tagen danach wurde ihre Stimmung immer trüber. Nachdem sie sich so über meine Scheidung gefreut hatte, regte sie sich nun wieder über jede Kleinigkeit auf. Sie wollte ihren Sohn wiedersehen, ihn um sich haben, ihn berühren. Sie hatte einfach genug davon, dass in unserer Familie ständig jemand weglief, ständig jemand entführt wurde. Warum hatte sich das Schicksal nur so gegen sie verschworen? Hatte nicht auch sie das Recht auf ein kleines bisschen Glück, so wie andere
Ommas?
    Sie bekam wieder Alpträume und stellte sich vor, Fares nie wiederzusehen. Sie fürchtete, dass er nie mehr zu seiner Familie zurückkehren würde und uns nur angerufen habe, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Nachts konnte sie wieder nicht schlafen. Es brach mir das Herz, sie anzuschauen. Meine Scheidung hatte mir über viele Dinge die Augen geöffnet, seitdem war ich viel empfänglicher für das Unglück der anderen.
     
    Und nun, an diesem drückend heißen Tag, ist Fares auf einmal zurückgekommen! Er ist viel stiller und schweigsamer als der Fares, an den ich mich erinnere. Aber seine dichten Wimpern und sein lockiges Haar, das ist ganz mein Bruder. Ich möchte alles von ihm wissen. Hat ihn sein Boss gut behandelt? Hat er neue Freunde gefunden in Saudi-Arabien? Dort unten gibt es doch bestimmt gute »Bizzas«?
    Meine Mutter lässt ihn gar nicht mehr los. Sie zerrt ihn am Arm in das kleine Wohnzimmer. Fares ist nicht sehr gesprächig. Langsam zieht er seine Schuhe aus und setzt sich auf ein Kissen. Ich lasse ihn nicht aus den Augen. In Windeseile hat ihm
Omma
ein Glas
chai
gebracht, den er hastig in kleinen Schlucken trinkt.
    »Nun, jetzt erzähle mal«, drängt mein Vater.
    Fares stellt das kleine Glas auf den
sofrah
.
    »Es ist mir nicht gelungen, in den vier Jahren etwas zu sparen. Tut mir leid. Wenn ich nur gewusst hätte«, murmelt er mit gesenktem Kopf.
    Auf einmal wird es ganz still im Raum. Da entspannt sich sein Gesicht ein wenig, er lächelt

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