Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Füße fest gegen das Brett, greife mit beiden Händen fest in die Seile und schwinge meinen Körper. Vorwärts. Rückwärts. Vorwärts. Rückwärts. Schneller und immer schneller.
Die Schaukel fliegt zum Himmel.
»Höher, Nojoud, noch höher!«, ruft Mona begeistert.
Ich spüre den Wind im Gesicht. Wie angenehm frisch! Mona lacht. Ihr Herz ist frei, ihr Körper ist leicht. Noch nie habe ich sie so fröhlich lachen hören. Und wir haben auch noch nie zusammen geschaukelt! Ich fühle mich wie eine Feder im Wind.
Wie schön das ist, dieses Gefühl von Unschuld wiedergefunden zu haben …
»
Omma
fliegt!
Omma
fliegt!«, lacht Monira an meiner Seite.
Mona stößt Freudenschreie aus. Sie kann gar nicht genug bekommen.
Es dauert nicht lange, und mein Kopftuch fliegt davon. Zum ersten Mal habe ich nicht das Bedürfnis, es gleich wieder anzulegen. Mein Haar fällt mir auf die Schultern und fliegt im Wind. Ich fühle mich frei. So frei!
[home]
10. Fares kommt nach Hause
August 2008
I ch habe eine »Bizza« gegessen. Das war vor einigen Tagen, in einem sehr modernen Restaurant, in dem die Kellner kleine Mützen auf dem Kopf tragen und die Bestellungen in ein Mikrofon rufen.
Komisch hat das geschmeckt! Knusprig, wie ein großer Fladen
khobz
mit vielen guten Sachen darauf: Tomaten, Mais, Hühnchen und Oliven. Am Tisch nebenan saßen Frauen mit Kopftuch, die jenen aus der »Yemen Times« glichen. Sie sahen sehr elegant aus und haben das Essen mit Messer und Gabel zum Mund geführt.
Ich habe versucht, es ihnen nachzumachen und meine »Bizza« mit meinem Besteck zu zerkleinern. Das war erst gar nicht so leicht. Es ist mir alles vom Teller geflutscht. Haïfa hat eine junge Frau beobachtet, die sich ganz viel Tomatenzeugs aus einer Flasche über ihr Essen gegossen hat. Das wollte sie auch ausprobieren. Aber schon beim ersten Bissen hat es ihr im Hals gebrannt, und ihre Augen sind ganz rot geworden. Zum Glück hat sich einer der Kellner von seinem Mikrofon losgerissen und ihr eine große Flasche Wasser gebracht.
Das ist für uns seitdem ein Spiel geworden. Wenn wir
Omma
beim Kochen helfen, stellen wir uns vor, dass wir Gäste in einer »Bizzeria« sind, die sich ihr Lieblingsessen aussuchen. So wie heute: »Was darf ich Ihnen bringen?«, fragt mich Haïfa, wenn sie den
sofrah
im großen Zimmer ausbreitet.
»Hm, heute eine ›Bizza‹ mit Käse«, antworte ich.
Dabei habe ich nur »mit Käse« gesagt, weil ich bei den Vorräten sonst gar nichts mehr anderes gefunden habe. Macht nichts, das wird es schon tun.
»Das Essen ist fertig!«, ruft Haïfa die Familie zusammen. Aber kaum haben wir unsere karge Mahlzeit begonnen, da klopft es energisch.
»Nojoud, erwartest du schon wieder Journalisten?«, fragt Mohammad misstrauisch.
»Nein, heute nicht …«
»Na, dann ist es vielleicht der Wasserwagen, der die Zisterne auffüllt. Kommt der sonst nicht immer am Morgen?«
Mohammad erhebt sich stirnrunzelnd, den Mund voller Brot. Mit raschen Schritten geht er zur Eisentür. Wer will uns um diese Zeit besuchen, im August, in der Mittagshitze? In der heißen Jahreszeit besucht man sich normalerweise erst gegen Abend.
Doch gleich springen wir auf.
»Fares!«, ruft Mohammad. »Fares ist wieder da!«
Ich falle fast in Ohnmacht. Fares, mein geliebter Bruder, den ich seit vier Jahren nicht gesehen habe! Meine Mutter tastet sich mit zitternden Händen an der Wand entlang zur Tür. Wir stürzen ihr alle hinterher, die kleine Rawdha will die Erste sein und drängt sich durch unsere Beine. Noch nie ist mir der kurze Weg zur Tür so weit vorgekommen.
Vor der Tür steht ein junger Mann mit sonnenverbranntem Gesicht und hohlen Wangen. Wie hat er sich verändert! Groß und schmal ist Fares geworden, nicht mehr der Heranwachsende auf dem Foto, das ich so oft betrachtet habe, um mir jedes Detail seiner Züge einzuprägen, aus Angst, sein Gesicht zu vergessen. Nun muss ich den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Sein Blick ist härter geworden, auf seiner Stirn zeichnen sich dunkle Linien ab, wie bei
Aba
. Er ist nun ein Mann.
»Fares! Fares! Fares!«, seufzt meine Mutter und greift nach seiner weißen Tunika, um ihn an sich zu drücken.
»Du hast uns so gefehlt«, sage ich und umarme ihn ebenfalls.
Fares steht stocksteif und stumm da. Erschöpft sieht er aus, sein Blick ist leer, fast traurig. Wo ist all sein Ungestüm hin?
»Fares! Fares!«, wiederholt Rawdha wie eine sprechende Puppe, ohne dass sie
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