Ich schnapp' mir einen Mann
reingesteigert in diese Wut, kannst du dir
das vorstellen?« Sie holte Luft für ein weiteres Geständnis. »Das
Schlimmste weißt du ja noch gar nicht. Wegen dieser blöden Wut hab ich
dich in der Bank mit reingezogen! Du hast mir geholfen, und ich hab zum
Dank deine Karriere zerstört!«
»Dann ist mir also meine Hilfsbereitschaft zum Verhängnis
geworden«, stellte Anton mit aufreizendem Gleichmut fest. »Was jetzt
auch nicht mehr zu ändern ist. Ich trag dir nichts nach. Es ist, wie's
ist.« Er gähnte geräuschvoll, rückte noch näher zu ihr hin und änderte
seine Lage, bis er es bequem hatte.
»Komm, lass uns schlafen. Ich bin bis vorhin aufgeblieben. Mir
fallen schon die Augen zu.«
»Ich kann nicht schlafen. Nicht, wenn ich weiß, dass wir
morgen in den Knast wandern.«
»Doch, natürlich kannst du«, sagte Anton zuversichtlich. Er
vergrub sein Kinn in ihren zerwühlten Locken. »Du wirst schon sehen.
Wenn man sich erst mal damit abgefunden hat, ist es leichter, glaub
mir.«
Doch Flora glaubte ihm nicht. Reglos lag sie da und grübelte
unablässig über einen Ausweg nach. Als seine tiefen Atemzüge ihr
verrieten, dass er eingeschlafen war, befreite sie sich vorsichtig aus
seinen Armen und schlüpfte aus dem Bett. Am liebsten wäre sie weit
weggelaufen, doch damit war es jetzt vorbei. Anton hatte Recht. Flucht
war auf Dauer keine Lösung.
Doch Flora besaß immer noch jenen fremden, geheimen Ort, an
den sie entkommen konnte und zu dem ihre Verfolger keinen Zutritt
hatten.
Sie war oft genug in dieser Wohnung gewesen, um sich im
Dunkeln zurechtzufinden. Der Laptop lag auf dem Schreibtisch, der sich
hinter einer als Raumteiler fungierenden Regalwand befand. Flora setzte
den Computer in Betrieb, rief die Romandatei auf und tippte, bis ihre
Hände schmerzten. Irgendwann, als bereits der Morgen graute, ging Flora
leise zum Fenster und schaute hinaus.
Die Dächer der vor ihr liegenden Stadt bildeten ein
surrealistisches Muster auf- und absteigender Linien, Winkel und
Flächen, die sich anthrazitfarben gegen die langsam aufsteigende Röte
abhoben. Das Bild inspirierte sie erneut, und rasch holte sie den
Laptop, um auf der Fensterbank weiterzuschreiben.
Florindas Gedanken schweiften ziellos zwischen den
Zeiten, sie berührten die vertanen Möglichkeiten ebenso wie die
offenen. Ihr war, als blickte sie über eine Ebene hinweg, die von
verschiedenen, vom Schicksal vorgezeichneten Linien durchzogen war,
ohne die Möglichkeit einer Abweichung. Auf diesen ausgetretenen Pfaden,
so sinnierte sie, teilt dir das Schicksal jemanden als Begleiter zu,
der alles verlangsamt, der die Freude nach und nach vernichtet und
alles grau und seicht werden lässt. Aber dann, in einem ganz besonderen
Moment, wenn die Zeit stillsteht, wenn sich in der Ebene eine Schlucht
auftut, vollführt plötzlich das Schicksal einen Sprung, es schlägt ein
Rad, dreht einen Salto, macht einen Kopfstand, gefällt sich in
verrückten Parzen: Es bringt dich mit jemandem zusammen, von dem ein
Licht ausgeht, das den Raum um dich erhellt. Dieser Mensch hat etwas an
sich, das tief in dir eine Saite zum Schwingen bringt, bis du eine
bestimmte Melodie hörst, die dich vollständig erfüllt. Du wirst nicht
müde, diesen Tönen zu lauschen, die in immer neuen Variationen und
Nuancen auf dich einströmen und dein Herz frei und den Tag strahlend
machen. Und dann, gerade wenn du den Zustand der Vollkommenheit zu
ahnen glaubst, gefällt es dem Schicksal, dich mit einem misstönenden
Kontrapunkt daran zu erinnern, dass alle Freude am Einklang nur ein
Spiel auf Zeit ist.
Flora hielt inne und schaute zum ausgeklappten Bettsofa
hinüber, dann legte sie beide Hände auf ihren Bauch und horchte in sich
hinein, auf diese andere Melodie, die sie hören würde, solange sie
lebte.
Warum sollte sie es nicht wagen? fragte Florinda
sich. Warum nicht mit aller Macht den vollkommenen Kanon wollen, den
sie vorhin, im Bett, in Antonios Armen, für Augenblicke ganz deutlich
hatte hören können? Eine Komposition konnte nur immer so gut sein wie
der Musiker, der sie spielte. Und wenn die Hoffnung erst starb, war das
Glück nicht mehr lebensfähig. Eine endlose Sekunde lang schwebte
Florinda zwischen Schatten und Licht, zwischen Resignation auf der
einen Seite und jener einzigartigen, mythischen Regung auf der anderen,
die Ähnlichkeit mit dem Martyrium hat: Die Bereitschaft, den schwersten
Weg zu gehen und alles zu opfern, um doch letztlich alles zu gewinnen.
Flora schaute
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