Ich Töte
drehte sich um und tastete sich vorwärts, mit seinen Händen die Wand suchend. Langsam ging er die Stufen hinunter und achtete darauf, nicht zu stolpern. Sein Herz schlug so heftig, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn es im ganzen Gebäude zu hören gewesen wäre. Mit dem vorgestreckten Fuß erfühlte er, dass er bereits am Ende der Treppe angelangt war. Er hielt seine Hand vor sich und ging langsam weiter, indem er sich immer an dem rauen Wandputz entlangtastete. Er kramte in seiner Jackentasche. In seiner Aufregung hatte er zusammen mit den Zigaretten auch das Bic-Billigfeuerzeug vergessen, das jetzt sehr hilfreich gewesen wäre.
Eine Bestätigung, dass Eile ein schlechter Ratgeber war. Tastend ging er weiter. Er hatte gerade mal ein paar Schritte in der absoluten Finsternis getan, als ihm ein eiserner Griff den Hals zuschnürte und sein Körper brutal gegen die Wand geschleudert wurde.
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Siebter Karneval
In der großen, stillen Wohnung sitzt ein Mann im Dunkeln, in einem Sessel.
Er hatte darum gebeten, allein zu sein, er, der immer Horror vor der Einsamkeit hatte, vor den leeren Zimmern, vor dem Halbdunkel.
Die anderen sind weg, nachdem sie ihn mit sorgenvollem Ton in der Stimme ein letztes Mal gefragt hatten, ob er wirklich alleine hier bleiben wolle, wenn keiner sich um ihn kümmern könne.
Er hatte Ja geantwortet, hatte sie beruhigt. Er kennt diese große Wohnung so genau, dass er sich frei darin bewegen kann, ohne etwas fürchten zu müssen.
Ihre Stimmen hatten sich mit dem Geräusch der verhallenden Schritte, mit der Tür, die zufällt, mit dem Fahrstuhl, der nach unten fährt, entfernt. Die Geräusche sind nach und nach zur Stille geworden.
So ist er nun allein. Und denkt.
In der Stille jener Nacht, Ende Mai, denkt er an die Kraft der letzten Jahre. Er denkt an seinen kurzen Sommer, der auf den Herbst der kommenden Jahre zusteuert, die es zu durchschreiten gilt, nicht auf Zehenspitzen, sondern mit den Fußsohlen fest am Boden, jeden sicheren Griff nutzend, um nicht zu stürzen.
Durchs offene Fenster strömt der Duft des Meeres. Er streckt eine Hand aus und entzündet die Lampe auf dem Tisch neben sich. Fast gar nichts ändert sich für seine Augen, die mittlerweile zum Schattentheater geworden sind. Er drückt wieder auf den Schalter. Das Licht geht beim Hauch seines hoffnungslosen Seufzers wie eine Kerze aus. Der Mann im Sessel denkt noch immer an das, was ihn erwartet. Er wird sich an den Geruch der Dinge gewöhnen müssen, an ihr Gewicht, an ihre Stimme, wenn sie alle in ein und dieselbe Farbe getränkt sein werden.
Der Mann im Sessel ist praktisch blind.
Es gab eine Zeit, da war das anders. Es gab eine Zeit, da lebte er vom Licht und von dessen Abwesenheit und von dessen Wesen. Zu einer Zeit, als seine Augen einen Punkt »da drüben« festlegten und er mit einem Sprung seinen Körper dorthin befördern konnte, während die Musik aus dem Licht selbst gemacht zu sein schien, einem Licht, das nicht mal der Applaus beschmutzen konnte.
Er war so kurz, sein Tanz.
Von der Geburt seiner ersten Passion über die aufregende Entde269
ckung des Talents bis zur Verblüffung der Welt, als er groß rauskam, war es nur ein Augenblick. Klar, es gab so lustvolle Momente, dass sie für ein ganzes Leben reichen würden, Momente, die andere niemals erlebten, nicht mal in hundert Jahren.
Aber die Zeit, die betrügerische Zeit, die Menschen wie Spielzeug und Jahre wie Minuten behandelt, war vergangen wie im Flug und hatte ihm auf einen Schlag mit einer Hand genommen, was sie ihm zuvor mit der anderen im Überfluss gespendet hatte.
Ganze Menschenmengen in ekstatischer Bewunderung seiner Grazie, der Eleganz seiner Schritte, der stillen Worte in jeder einzelnen Geste, als seine gesamte Figur von der Musik selbst gezeugt zu sein schien, so sehr war er Teil der Harmonie, in der er sich bewegte.
Noch immer trägt er in den fast erloschenen Augen die Erinnerungen. Sie waren ein so starkes Licht, dass sie beinahe jenes ersetzen konnten, das er gerade verlor. Sie waren die Scala von Mailand, das Bolschoi von Moskau, das Theatre Princesse Grace von Monte Carlo, das Metropolitan von New York, das Royal Theatre von London. Eine unendliche Zahl von Vorhängen, in der Stille geöffnet und über den Applausen für jeden seiner Erfolge wieder geschlossen.
Vorhänge, die sich nie wieder öffnen würden.
Adieu, König der Tänzer.
Der Mann streicht mit einer Hand durch das glänzende, dichte Haar.
Seine Hände
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