Ich versprach dir die Liebe: Roman (German Edition)
intelligent sie auch war – zeitweise konnte sie ziemlich zerstreut sein und Alltäglichkeiten schlicht vergessen. Warum zum Teufel hatte mich das manchmal gestört?
»Wo sind die restlichen Briefe?«, fragte Chris.
»Sieh mal auf dem Esszimmertisch nach.«
»Das Zeug hätte ich auch ohne dich holen können«, brummte er.
»Gut möglich.« Aber nachdem ich fast gestorben war, wollte ich wissen, ob die Welt sich verändert hatte. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir, dass sich zumindest unser Rasen in der Zwischenzeit in eine Wildnis verwandelt hatte – ansonsten jedoch wirkte die Welt nur flacher, blasser und leerer als zuvor. Die Realität von Elles Unfall ließ sich nicht mehr leugnen. Der Herbst war gekommen. Alles starb. Eine Welle von Pessimismus brach angesichts der leeren Küche über mir zusammen. Doch dann sagte ich mir, dass im Frühling wieder neues Leben erstehen würde. Unser Baby sollte im Frühling kommen. Ich ging ins Wohnzimmer.
»Ich habe sie«, rief Christopher.
»Ich brauche nur noch eine Minute.«
Auf dem Kaminsims stand ein Schnappschuss von Elle undmir, den uns jemand zur Hochzeit hatte rahmen lassen. Ich war damals ungefähr acht, Elle demnach etwa sechs Jahre alt. Unsere Familien waren zusammen zum Camping gefahren. Alice, die gern schwarz-weiß fotografierte, hatte uns mit einem harten, körnigen Film aufgenommen. Ein Lagerfeuer beleuchtete uns von hinten, und wir saßen Nase an Nase. Wir wirkten wie Silhouetten, bis auf unsere Augen, die das Feuer reflektierten. Schon damals bestand dieser Funke zwischen uns.
»Carrie sieht aus wie Elle«, kam Christophers Stimme von hinten. Seine vier Monate alte Tochter hatte tatsächlich Ähnlichkeiten mit ihrer Tante.
»Das musst du ihr erzählen, sobald sie alt genug ist, es zu verstehen.«
»Oh, das werde ich ganz sicher tun.« Christophers Stimme schwankte.
Ich drehte mich zu ihm um. »Weißt du, dieses Baby sieht vielleicht auch aus wie Elle.«
»Das ist gemein, Matt.«
»Wieso?«
»Weil es manipulativ ist.«
Ich setzte mich auf die Armlehne der Couch. »Warum? Es ist die Wahrheit. Elle bekommt ein Baby. Ihr Baby. Es ist ein Teil von ihr, der überleben könnte. Zwar wird das Baby nicht Elle sein, aber du weißt selbst, wie sehr sie sich ein Baby wünschte. Denk doch nur daran, wie Elle war. Als du ein verängstigter, kleiner, mutterloser Junge warst, hat sie dich unter ihre Fittiche genommen. Deinetwegen hat sie ihre eigenen Träume aufgeschoben. Deinetwegen, Chris. Im Weltraum hat sie fünfhundertsechzig Kilometer über der Erde bei einer Geschwindigkeit von zweihundertachtzigtausend Stundenkilometern ihre Verbindung zum Raumschiff gelöst, um einen anderen Astronauten zu retten. Immer hätte sie alles getan, um jemandem zuhelfen, den sie mochte.« Meine Stimme wurde unsicher. »Sie hätte dieses Baby geliebt. Für dieses Baby hätte sie sich an alle Geräte anschließen lassen, die sein Überleben sichern.«
»Ich weiß nicht.« Er rieb sich die Augen. »Ich weiß wirklich nicht. Eine meiner deutlichsten Erinnerungen an Elle ist ihr Weinen. Mom war krank, und Elle saß bei ihr. Plötzlich sprang sie auf, rannte in die Küche und schluchzte, dass das alles nicht richtig wäre und dass wir Mom nur sinnlos quälten.«
»Aber da gibt es einen gravierenden Unterschied. Eure Mutter war dem Tod geweiht, ganz gleich, was man unternommen hätte. Sie künstlich am Leben zu halten bedeutete nur, ihr Leiden zu verlängern. Elle ist schwanger. Es macht also Sinn, sie am Leben zu erhalten, bis das Baby geboren wird. Und was ist mit dem Baby selbst? Hat es etwa keine Rechte? Hinzu kommt, dass Elle keinen Schmerz spürt. Sie weiß nicht, was mit ihrem Körper geschieht. Und danach …« Ich brach ab, weil ich erst die richtigen Worte suchen musste. »Ich werde dafür sorgen, dass sie ihren Frieden findet. Ich werde den Antrag stellen, dass keine weiteren lebenserhaltenden Maßnahmen durchgeführt werden.« Oder, dachte ich, ohne es auszusprechen, ich werde etwas in ihre Magensonde geben, damit sie nie wieder Schmerz spüren oder leiden muss. Ich barg mein Gesicht in den Händen.
»Lassen wir das Thema«, sagte er. »Gehen wir lieber. Du fühlst dich doch wohl, oder?«
Ich nickte. Nein, ich würde keinen weiteren Infarkt bekommen, aber ich brauchte noch eine Minute, um abzuschalten. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Geh bitte nach oben, und sieh nach, ob alle Fenster geschlossen sind. Die ganze Treppe schaffe ich vermutlich noch
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