Ida B ... und ihre Pläne, so viel Spaß wie möglich zu haben, Unheil zu vermeiden und (eventuell) die Welt zu retten
bereit, den Titel vorzulesen, aber ich spürte, wie die Augen aller auf mich gerichtet waren. Sie bedrängten mich so sehr, dass ich kaum mehr Luft kriegte. Die einzigen Laute, die aus mir herausdrangen, waren kleine Piepser, wie von einem Vogeljungen, das zirpte: »Alexandra Potemkin und das Spaceshuttle zum Planeten Z.«
Miss Washington beugte sich mit geschlossenen Augen herüber und flüsterte: »Du musst lauter lesen, Süße, damit dich alle hören können.«
»Ja, Madam«, flüsterte ich zurück. Dann atmete ich tief ein, füllte meinen Bauch mit Luft und ließ sie von den Muskeln wieder herausdrücken, sodass ein kräftiger Atem über die Stimmbänder hinweg aus meinem Mund blies.
»Erstes Kapitel«, bellte ich. Meine Stimme war plötzlich so laut, dass ich ganz überrascht war und ein bisschen auf meinem Stuhl zurücksprang.
Aber keiner lachte. Alle hörten zu.
Das Buch handelte von Alexandra. Ihre Eltern halten sie für schwierig, aber in Wirklichkeit ist sie ein Genie und assistiert der ebenfalls genialen Professorin Zelinski in ihrem Streben, den lange verschollenen Planeten Z zu erforschen. Alexandra gerät in Schwierigkeiten, doch eigentlich ist sie eine sehr konzentrierte Person.
Zuerst machte ich mir Gedanken über die ganzen Leute, die mich beobachteten und zuhörten. Aber nach ein paar Minuten verließ ich das Klassenzimmer und trat in die Geschichte ein. Ich war in Alexandras Labor anstatt in der Schule und sprach nur alles laut aus, was ich sie tun sah und empfinden spürte. Ich ließ meine Stimme die Art und Weise erzählen, wie Alexandra es tat, sah und empfand.
Und ich war so gespannt zu erfahren, was als Nächstes geschah, dass ich mein Lesen völlig vergaß. Ganz plötzlich war das Kapitel zu Ende, und ich hatte das Gefühl, aus einem Traum gerissen zu werden. Ich konnte mich kaum erinnern, wo ich war, und schaute mich um. Da sah ich: Ich saß an einem Pult, vor mir lag ein Buch, Kinder starrten mich an. Langsam erinnerte ich mich jetzt wieder.
Ich warf einen Blick hinüber zu Miss W., und sie lächelte und flüsterte: »Vielen Dank, Ida. Das war wunderschön.«
Da reichte ich Miss W. das Buch, und wir machten uns wieder an die Arbeit, und alles war wie immer, außer dass Miss W. alle Anweisungen an die Tafel schreiben musste, anstatt sie auszusprechen.
Als ich in der freien Lernzeit zu Ronnies Pult ging, schaute er mir in die Augen und sagte: »Du liest echt gut, Ida.« Und diesmal starrte ich auf meine Schuhe, als könnten sie weglaufen, wenn ich sie nicht im Auge behielt.
In meiner Kehle saß plötzlich ein Kloß, sodass ich fast kein »Dankeschön« herausbrachte.
Nichts hatte sich verändert, außer dass ich im Bauch, in den Armen und Beinen und im Kopf ein Glühen spürte, das nicht weggehen wollte. Selbst auf der blöden langen Busfahrt nach Hause nicht.
21. KAPITEL
»Wie war die Schule heute, Ida B?«, fragten mich Mama und Daddy jeden Tag, seitdem ich wieder auf die Ernest-B. -Lawson-Grundschule ging.
Und jeden Tag antwortete ich: »Es war okay.«
»Was habt ihr gemacht?«
Und ich erzählte ihnen nur die Fakten, nüchtern und kalt wie mein Herz. »Wir hatten Englisch, dann hatten wir Naturkunde, dann sind wir zum Sport gegangen...«, ohne Höhen und Tiefen oder irgendetwas von meinem wahren Ich.
Es war jeden Tag dasselbe, unergiebig und so fade und trocken wie altbackenes Brot, weshalb ich gar nicht fassen konnte, wie lange sie es immer wieder versuchten.
Nach einer Weile gaben sie aber doch auf. Von da an fragten sie nur noch: »Wie läuft’s denn, Ida B?«
»Okay«, murmelte ich dann.
Und das war’s. Ich war nicht der Meinung, dass es mehr als dieses Wort brauchte, um ihnen klar zu machen,
dass in mir nichts herumschwamm, was im Entferntesten Ähnlichkeiten mit Freude hatte.
Aber an diesem Nachmittag war es anders. Das gute Gefühl, das ich vom Lautlesen der Geschichte bekommen hatte, hatte sich den ganzen Nachmittag Stück für Stück gesteigert und sich schließlich zu einem ausgewachsenen Glück gemausert, als ich nach Hause kam. Ich würde auch weiter daran denken, was ich getan hatte und was das für ein Gefühl war, und der warme Glanz in meinem Innern würde jedes Mal weiterwachsen und noch stärker und strahlender werden.
Meine Beine wollten die Zufahrt entlanghüpfen, nicht gehen. Mein Mund wollte lächeln, nicht grummeln. Meine Arme wollten jemanden umarmen, nicht meinen Ranzen vor die Brust halten wie einen Schutzschild. Mein Herz war
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