Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
unter dem Baum warten, hatte er genau das getan. Er hatte nicht einmal versucht, die Knoten zu lösen, die ihn dort festhielten. Es war genau wie das Warten im Kleinbus. Jonas hatte ihm versprochen, dass ihm nichts passieren würde, und gesagt, er solle tun, was der Mann sagte. Also hatte er sich hingesetzt, hatte zum Abschied gewinkt und darauf gewartet, dass sein Daddy kam und ihn nach Hause holte.
Er hatte seine Lieder gesungen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Häschen in der GRUBE
Saß und SCHLIEF
Saß und SCHLIEF
Ein paarmal hatte er »Hallo!« und »Daddy!« geschrien, doch der kleine Abhang ließ Geräusche nicht weit kommen.
Als er Hunger bekommen hatte, hatte er Gras gegessen. Der reichliche Tau hatte dafür gesorgt, dass er Wasser gehabt hatte. Doch er hatte auch dafür gesorgt, dass er nass wurde und fror.
In der dritten Nacht war Charlie Peach an Unterkühlung gestorben.
Er hatte nie Theater gemacht.
Elizabeth Rice wusste dies alles nicht, als sie auf Charlies Leichnam hinabstarrte.
Später würde sie es wissen, wenn der Pathologe Seilknoten und Fingernägel untersuchte, wenn er Charlies straffen kleinen Magen geöffnet und darin altes Fleisch und frisches Gras gefunden hatte. Später würde sie auch wissen, dass Charlie nicht sexuell missbraucht worden war. Ein schwacher Trost, aber immerhin.
Alles, was sie jetzt, in diesem Moment wusste, war, dass ihre Kehle vor Anstrengung schmerzte, nicht zu weinen. Nicht hier in aller Öffentlichkeit, während Reynolds neben ihr stand und die Leute von der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung ihre Ausrüstung hinter ihnen ausluden.
Es war der Daumen im Mund, der ihr den Rest gegeben hatte – diese Kleinjungengeste, die den Teenager als das entlarvte, was er in Wirklichkeit war und was er immer gewesen wäre, wenn er nicht tot zu ihren Füßen liegen würde.
»Wir müssen Mr Peach Bescheid sagen«, meinte Reynolds zaghaft. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das zu übernehmen, Elizabeth?«
»Ja, das würde mir verdammt noch mal sehr wohl etwas ausmachen!«, gab Rice zurück und brach in lautes Schluchzen aus. Sie kniete sich neben Charlie. Eine Fliege saß in seinem Mundwinkel, und sie scheuchte sie weg. Das Tier kam sofort zurück und tanzte auf seiner Lippe.
»Nicht anfassen«, sagte Reynolds, doch sie legte trotzdem eine Hand auf Charlies Kopf und streichelte sein feines blondes Haar, so wie eine Mutter es getan hätte.
Wenn sie den Mann fand, der das getan hatte, würde sie ihn umbringen, so wie eine Mutter es getan hätte.
Der Arzt kam im weißen Papieroverall herüber. Er stellte seine Tasche neben Charlies Füßen ab und räusperte sich.
Reynolds stand hinter ihr. Wenn er versuchte, sie von Charlie wegzuziehen, würde sie ihm die Augen auskratzen müssen, dachte Rice, und dann wäre ihre Karriere zu Ende. Stattdessen berührte er sie an der Schulter und sagte sanft: »Kommen Sie, Elizabeth. Wir überlassen ihn jetzt lieber dem Doktor.«
Dem Doktor, der Charlies weichen blonden Flaumkopf aufsägen würde. Eine Nanosekunde lang wollte Rice auch ihn umbringen. Dann wich schlagartig aller Zorn aus ihr, und sie fühlte sich ganz schlaff ohne die Wut, die sie aufrecht hielt.
Es war vorbei. Sie waren zu spät gekommen. Für Charlie Peach hatte der Rattenfänger-Fall ein schlimmes Ende genommen.
Rice nickte, wischte sich die Augen und dankte Gott für wasserfeste Mascara. Reynolds half ihr mit einer Hand am Ellenbogen hoch.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken«, erwiderte er.
56
Reynolds klopfte an und wartete dann auf dem Gehsteig vor David Peachs Haustür.
Ein Dutzend Mal war er im Geist eine Liste anderer Beamter durchgegangen, die er hätte schicken können, schließlich jedoch hatte er akzeptiert, dass dies hier etwas war, das er selbst tun musste. Als Neuling bei der Polizei hatte er dergleichen ein paarmal gemacht und war entsetzt gewesen, dass man ihm erlaubte, sich selbst trauernden Hinterbliebenen zuzumuten. Doch bei Kindern war das etwas anderes. Das begriff Reynolds, obgleich er nie selbst ein Kind gehabt hatte. Jeder, der ein Kind verloren hatte, verdiente es, dass der ranghöchste verfügbare Polizeibeamte ihm die Nachricht überbrachte, und er war der Einzige, auf den diese Verantwortung abgewälzt werden konnte. In letzter Zeit wurde anscheinend sämtliche Verantwortung auf ihn abgewälzt. Besser fühlte er sich dabei nicht gerade. Er räusperte sich immer wieder und war sich plötzlich
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