Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
gewesen, der ihn geklaut hatte. Er würde als Dieb sterben, und das wäre echt unfair.
Angetrieben von diesem Gedanken schob Steven abermals kräftig an.
Jäh wurde es hell auf der Straße, und er begriff, dass die Außenbeleuchtung am Giebel des Honeysuckle Cottage seine Bewegung erfasst hatte.
Steven kam sich fürchterlich preisgegeben vor, als er weiterschob. Er war schon lange nicht mehr nachts hier oben gewesen. Seit gut über einem Jahr nicht mehr. Das letzte Mal war er durch den Schnee gestapft, mit seiner Zeitungstasche an der Hüfte. Er wollte sich nicht an diesen Abend erinnern – nicht jetzt, wenn er es unbedingt am Rose Cottage vorbeischaffen musste.
Die Erinnerungen drängten sich ihm trotzdem auf.
An den Abend, an dem Mrs Holly ermordet worden war.
Sie hatte ihm Tee gekocht; sie hatte ihm Geld gegeben. Sie hatte ihn so fest an sich gedrückt, dass seine Tränen auf ihre blaue Schulter gefallen waren.
Und er hatte ihr nichts zurückgegeben. Für all die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten – für all das Interesse, das sie gezeigt, und all die stillen kleinen Momente der Freundlichkeit hatte er nichts zurückgegeben. Nicht einmal als sie ihn am allermeisten gebraucht hatte.
Hundert Mal hatte Steven seit diesem Abend die brennende Scham der Feigheit verspürt. Dann fühlte er sich schwach und keiner Liebe würdig.
Kommen Sie mit.
Das hätte er sagen können. Hätte er sagen sollen. Es wäre so einfach gewesen.
Aber wohin ? Er war doch nur der Zeitungsjunge, und Lucy Holly war eine erwachsene Frau mit einem richtigen Leben, die es gewohnt war, Erwachsenenentscheidungen zu treffen, trotz ihrer schwachen Beine und ihrer Krücken. Irgendetwas hatte ihm gesagt, dass sie es für keine besonders kluge Idee halten würde, sich mitten in der Nacht am Arm eines Jungen durch einen Schneesturm bis zum Haus seiner Mum durch zukämpfen. Sogar er hatte gewusst, dass sich das ein biss chen durchgeknallt angehört hätte. Sie zu fragen, ob sie Hilfe bräuchte, hätte geheißen, die Gefahr offen anzuerkennen, in der sie war, und er hatte keine Ahnung gehabt, wie er das ihr gegenüber ansprechen sollte.
Also hatte er sie stattdessen dort sterben lassen.
Der Gedanke ließ Steven frösteln.
Er musste aufhören, an das alles zu denken. Er musste stark und konzentriert sein, sonst würde dieser verdammte Anhänger ihn auf dem Weg den Hügel hinunter noch überrollen. Er musste hartnäckig sein.
Steven biss die Zähne zusammen, streckte die schmerzenden Arme durch und schob, so fest und schnell er konnte. Er fühlte, wie Schweiß zwischen den Schulterblättern seinen Rücken hinunterrieselte.
Der Überwachungsscheinwerfer ging aus, und er seufzte erleichtert. Er war fast vorbei.
Hinter der Gartenhecke des Rose Cottage übernahm wieder die grobe Straßenhecke das Regiment und folgte ihrem Gegenüber den ganzen Weg zur Springer Farm und zur Old Barn Farm dahinter hinauf.
Aber er musste haltmachen, nur einen Moment, sonst würden ihm die Arme abfallen. Also tat er es, drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Anhänger, damit der nicht wegrollte, die Füße gegen die Straße gestemmt, und versuchte, sein Keuchen so gut wie möglich zu dämpfen.
Der Scheinwerfer ging abermals an.
»Hallo, Steven.«
Sein Herz blieb abrupt stehen.
Jonas Holly stand als Silhouette im grellen weißen Licht.
Nur der Gedanke an die Riesenanstrengung, die er bereits hinter sich hatte, hielt Steven davon ab, den Anhänger einfach zurückzulassen und davonzurennen.
Jonas sah sogar noch größer aus, als er ihn in Erinnerung hatte. So groß und dünn im hellen weißen Licht, dass Steven sich fragte, ob er sich ihn vielleicht nur einbildete.
»Brauchst du Hilfe?«
Das war nicht das, was Steven zu hören erwartet hatte. Das Letzte, was er wollte, war, Zeit in Gesellschaft von Jonas Holly zu verbringen. Schon gar nicht mitten in der Nacht.
Das Schweigen entfaltete sich geschmeidig zwischen ihnen, mit einem ganz eigenen leisen Wispern. Beinahe hätte er abgelehnt, doch er dachte daran, wie komisch es aussehen würde, »Nein, danke« zu sagen und sich unter den unsichtbaren Augen der Silhouette im Schneckentempo weiterzumühen.
Er hatte keine Wahl.
»Okay.«
Der Mann kam auf Steven zu, und das Licht fächerte hinter ihm auf, als tauche er aus einem strassbesetzten Hollywood-Himmel auf. Mit einem Klick ging der Scheinwerfer aus, und einen grauenvollen Moment lang konnte Steven ihn überhaupt nicht mehr
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