Ihr wahrer Name
schoß hinaus, ohne sich freundlich von mir zu verabschieden. Ich fuhr mit der Hochbahn zurück in mein Büro, wo ich eine E-Mail von Morrell vorfand.
Jetzt weiß ich, daß ich als erfahrener Reisender mich in meinen Erwartungen von den Beschreibungen Rudyard Kiplings habe beeinflussen lassen. Ich war nicht vorbereitet auf die Schlichtheit und Größe dieser Berge und darauf, daß man sich neben ihnen wie ein Nichts vorkommt. Man ertappt sich dabei, trotzige Gesten machen zu wollen: Ich bin hier, ich bin am Leben, nimm mich zur Kenntnis.
Was Deine Frage zu Paul Hoffman oder Radbuka anbelangt: Natürlich bin ich kein Fachmann, aber ich glaube durchaus, daß jemand, der so gequält wurde wie er offenbar von seinem Vater, emotional sehr labil werden könnte. Die Tatsache, vom eigenen Vater gequält zu werden, muß sehr schmerzhaft sein; man würde denken, daß man selbst die Schuld an diesem Verhalten trägt -Kinder machen sich in schwierigen Situationen immer selbst Vorwürfe. Aber wenn der Betreffende sich einreden könnte, aufgrund seiner historischen Identität verfolgt zu werden - er war Jude, aus Osteuropa, hat die Todeslager überlebt -, dann würde das den Qualen Glanz und einen tieferen Sinn verleihen, und es würde ihn vor dem Schmerz bewahren zu glauben, ein schreckliches Kind zu sein, das dem Vater zu seinen Quälereien Grund gibt. So sehe ich das jedenfalls. Meine geliebte Pfeffermühle, Du fehlst mir jetzt schon mehr, als ich Dir sagen kann. Es verunsichert, in dieser Landschaft so wenigen Menschen zu begegnen. Mir fehlt nicht nur Dein Gesicht - ich sehne mich auch danach, überhaupt wieder Gesichter von Frauen zu sehen. Ich druckte den Teil aus, in dem es um Paul ging, und faxte ihn Don Strzepek über Morrells Privatgerät zusammen mit dem Zusatz: Vielleicht kannst Du was damit anfangen. Ich fragte mich, wie das Gespräch zwischen Don und Rhea ausgegangen war. Würde er weiterhin das Buch mit ihr machen wollen? Oder würde er warten, bis wir wußten, ob Max und Lotty bereit waren, einer DNA-Analyse zuzustimmen?
Paul Hoffman hatte seine Identität an einen sehr dünnen Faden gehängt, wenn er sie ausschließlich auf seine Namenssuche im Internet gründete, die schließlich den Namen Sofie Radbuka zutage gefördert hatte. Und dieser Faden war auch seine einzige Verbindung nach England unmittelbar nach dem Krieg.
Das erinnerte mich an das Bild von Anna Freud, das Paul in seiner Kammer aufgehängt hatte. Seine Retterin in England. Ich rief bei Max an und sprach mit Michael Loewenthal - Agnes war es gelungen, einen neuen Termin mit der Galerie zu vereinbaren, und so paßte er auf Calia auf. Er ging für mich ins Wohnzimmer und teilte mir dann den Titel der Biographie mit, die Lotty am Vorabend geholt hatte.
»Wir fahren in die Stadt, um uns die Walrosse ein letztes Mal anzusehen; da könnte ich dir das Buch im Büro vorbeibringen. Nein, kein Problem, Vic, wir sind dir noch was schuldig, weil du dich so aufopfernd um unser kleines Monster gekümmert hast. Allerdings hätte ich noch eine Bitte an dich: Calia läßt uns keine Ruhe wegen des Hundehalsbands. Das könnten wir dann gleich abholen.«
Ich stöhnte. Das verdammte Ding lag bei mir zu Hause in der Küche. Ich sagte Michael, wenn ich es nicht mehr schaffte, das Halsband am Abend in Evanston vorbeizubringen, würde ich es Calia in London zuschicken.
»Entschuldige, Vic, die Mühe brauchst du dir nicht zu machen. Ich komme in ungefähr einer Stunde mit dem Buch vorbei. Hast du übrigens mit Lotty gesprochen? Mrs. Coltrain hat mich aus der Klinik angerufen. Sie macht sich Sorgen, weil Lotty sämtliche Termine für heute abgesagt hat.« Ich erzählte ihm, unser Abschied am Vorabend sei nicht so herzlich gewesen, daß ich Lust gehabt hätte, sie anzurufen. Doch nachdem wir aufgelegt hatten, wählte ich Lottys Privatnummer. Es meldete sich nur ihr Anrufbeantworter, der mehrere Nummern für den Fall angab, daß es sich um eine medizinische Notlage handelte. Freunde bat er, eine Nachricht nach dem Piepston zu hinterlassen. Ich wurde den Gedanken an den Wahnsinnigen nicht los, der in der Stadt unterwegs war und Leute erschoß, um an die Bücher von Hoffman zu kommen. Aber bestimmt würde der Pförtner in Lottys Haus niemanden durchlassen, der dort nichts verloren hatte. Ich rief Mrs. Coltrain an, die anfangs erleichtert war, von mir zu hören, und ganz nervös wurde, als sie merkte, daß ich nichts über Lotty wußte. »Wenn sie krank ist, sagt sie
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