Iluminai - Das Zeichen der Drachenhüter (Iluminai - Kabal Shar) (German Edition)
Greif hatte Augen, die selbst eine Ameise auf dem Pflaster der Straßen entdeckt hätten. Die beiden kleinen Gestalten hatte er längst erspäht.
Die Kreatur warf sich mit einer eleganten Bewegung in der Luft herum und stürzte auf die Straßen hinunter.
Dari schrie auf und riss Miray zu Boden. Sie spürten, wie der Greif über sie hinwegfegte und seine Flügel über ihre Rücken strichen. Der Greif musste durchziehen und kam ins Trudeln. Er streifte den durchlöcherten Untergrund vor dem Sehenden Turm, und Miray konnte erkennen, wie einer der Tunnel unter der dünnen Erdschicht in sich zusammenfiel. Ein großes Loch klaffte auf, das einen guten Teil einer unterirdischen Palastkonstruktion offenbarte.
Treppen und Säulengänge, die von Gold und Silber funkelten, wurden vielleicht das erste Mal seit ihrer Erschaffung vom Licht der Sonne gestreift.
„Das schaffen wir niemals!“, rief Miray außer sich vor Angst.
„Du musst aber zum Sehenden Turm. Wenn der Greif hier ist, bedeutet das nichts anderes, als dass die Grauen Hexer bereits aus der Zeitfalle entkommen sind. Sie werden jeden Augenblick das Stadttor erreichen.“
„Aber ... du hast doch gesagt, dass sie den Schutz der Stadt nicht durchbrechen können.“
Dari blickte den Prinzen traurig an. Erst jetzt wurde Miray bewusst, dass es für ihn tatsächlich kein Zurück mehr gab. Er konnte sich in keinem der Paläste dieser Stadt verbergen. Es gab keinen Ort auf der ganzen Welt, an dem er vor den Grauen Hexern sicher gewesen wäre.
Dari rappelte sich auf und lief zu einer kleinen, schimmernden Pferdestatue. Sie war aus weißem Marmor gemeißelt und stellte ein schlankes, filigranes Pferd dar, das kaum größer war, als eine der schwarzen Windstuten.
„Was hast du vor?“, rief Miray, der den weißen Greif beobachtete. Er hatte eine lange Kurve geflogen, um vor dem Sehenden Turm umdrehen zu können und kam soeben zurück.
Seine scharfen Augen richteten sich auf den Prinzen, der wie ein Wurm auf dem Präsentierteller vor ihm lag.
„Steh auf, Miray!“, brüllte Dari und legte ihre Hände auf den Kopf des marmornen Pferdes.
Miray kam unsicher auf die Füße. Er fühlte sich wie gelähmt. Der Blick des Greifs schien ihn festzuhalten. Er vermochte kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Was Miray nun sah, konnte er aber genauso wenig glauben. Das Marmorpferd bewegte sich auf einmal, sprang von seinem Sockel und warf die lange Mähne in den Nacken. Es bestand zwar nach wie vor aus Marmor, aber Dari schien den Stein mit ihrer Feenmagie zum Leben erweckt zu haben.
„Wie hast du das gemacht?“, wollte Miray wissen und streichelte über die weichen Nüstern des schlanken Pferdes.
„Das ist jetzt unwichtig“, zischte die Lichtfee. Schatten hatten sich unter ihren Augen gebildet, und sie wirkte auf einmal schwach.
„Was ist mit dir!?“, rief Miray erschrocken und musste Dari stützen, die sich auf den Steinsockel sinken ließ, auf dem das Marmorpferd vielleicht viele hundert Jahre lang gestanden hatte.
„Es geht mir gut“, wehrte Dari ab. „Ich erhole mich schon wieder. Steig auf das Pferd, Miray, und reite zum Turm. Und dann tu, was Nyasinta dir gesagt hat. Ich verspreche dir, du wirst das Gefühl haben, als würdest du nur einmal kurz die Augen schließen und in der nächsten Sekunde wieder aufwachen.“
„Ja, vielleicht vergehen für mich nur Sekunden, aber für euch werden es viele Jahre sein. Meine Schwestern werden dann nicht mehr leben und ...“
„Daran darfst du nicht denken. Geh jetzt, bevor es zu spät ist.“
Der Prinz zögerte und blickte Dari fest in die schwarzen Augen.
„Ich werde dich nicht vergessen, Miray, falls es das ist, was du wissen willst“, sagte sie.
Miray beugte sich vor und küsste Dari auf die weiße Wange. Die Lichtfee schlang einem plötzlichen Impuls folgend die Arme um Mirays schlanke Gestalt und hielt ihn fest an sich gedrückt. Dann ließ sie ihn los und stieß ihn von sich.
„Geh jetzt!“, rief sie. „Geh jetzt, oder wir sind alle verloren!“
Miray wandte sich erschüttert von Dari ab und fasste in die Mähne des wartenden Marmorpferdes. Der weiße Greif hatte das Ende der Ebene vor dem Sehenden Turm erreicht und schlug mit den Flügeln, um seinen riesigen Körper zwischen den Mauern der Häuser hindurch manövrieren zu können. Ein heftiger Windhauch erfasste Miray, als er sich auf den blanken Pferderücken schwang. Kaum saß er, jagte das ungewöhnliche Reittier auch schon los.
Der weiße
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