Im Bann der Dämonin
noch nie so müde, so erschöpft gesehen. „Was sollen wir jetzt mit der Leiche machen?“, fragte Giancarlo. „Sollen wir sie über Bord werfen?“
Massimo blickte über den Rand des Boots ins Wasser. Sie konnten sie genauso gut gleich hier vor der Erlöserkirche versenken. „In Ordnung.“
Sie beschwerten den Körper mit Betonblöcken, die sie für den Notfall immer dabeihatten, aber heute Nacht zum ersten Mal benötigten. Dann rollten sie das tote Mädchen über den Rand. Es platschte leise, als sie ins Wasser fiel. Das oberste Tuch, das um sie gewickelt war, löste sich und gab ihr braunes Haar frei. Es schien nach ihm greifen zu wollen, während das Mädchen in die Tiefen des Kanals sank.
Nachdem sie verschwunden war, startete er den Motor.
„Das wäre erledigt.“ Giancarlo nickte zufrieden.
Doch als sie wieder im Palazzo eintrafen, mussten die beiden Männer feststellen, dass sie nicht gut genug gearbeitet hatten.
Denn das Mädchen wartete schon auf sie.
Nicht in ihrer körperlichen Gestalt, sondern als ein Flackern ihres Geistes, und zwar in einem der Fenster in dem Raum, in dem sie gestorben war. Ihre Stimme, geisterhaft schön, erscholl über dem Kanal. Es war eine Arienmelodie aus Puccinis Oper Tosca , der letzten Partie, die sie gesungen hatte.
Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe,
tat nie einem lebenden Wesen etwas zuleide …
„Das wird der baronessa nicht gefallen“, stellte Giancarlo fest und sprach damit aus, was sie beide dachten. „Und zwar ganz und gar nicht.“
6. KAPITEL
Sonnenaufgang über dem Canal Grande
B randon erwachte in den frühen Morgenstunden und trat ans Fenster. Die Wasserfläche davor funkelte im blassen Morgenlicht. Irgendwo da draußen war Luciana und schmiedete Pläne.
Der erste Ort, an dem er nach ihr suchen würde, war der Ort, an den sie sich letzte Nacht geflüchtet hatte.
Rio Terá dei Assassini .
Später am Morgen brannte die Sonne heiß auf die Stadt herunter und sorgte für eine stickige Hitze. Bei Tageslicht sah die kleine Straße so unschuldig und charmant aus wie jede andere Gasse in Venedig. An der Ecke war ein Buchladen, es gab mehrere Souvenirgeschäfte und Restaurants mit bunten Markisen. Und Touristen flanierten durch die Straße.
Die Glasgalerie war nicht schwer zu finden. Ein paar Leute standen davor und betrachteten die Schaufensterauslage.
Brandon öffnete die Tür und betrat den Laden.
Man sah nichts mehr von dem Kampf, der letzte Nacht hier stattgefunden hatte.
Die Regale waren wieder aufgefüllt, alle Stücke standen ordentlich nebeneinander aufgereiht da.
Kein Tröpfchen Blut war mehr zu sehen, keine noch so kleine Glasscherbe, die von den Ereignissen zeugte.
Eine tadellos gekleidete Verkäuferin kam auf ihn zu. „Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?“, fragte sie auf Englisch.
Hat eigentlich jeder Dämon in Venedig grüne Augen? fragte Brandon sich.
„Ich bin auf der Suche nach einer Frau. Ihr Name ist Luciana Rossetti.“
Die Frau verzog keine Miene, doch ein Zucken in ihren Augen verriet Brandon, dass ihr der Name etwas sagte. Sie wahrtejedoch die Fassung. „Es tut mir leid, Sir. Eine Person dieses Namens ist mir nicht bekannt. Darf ich Ihnen vielleicht einen mundgeblasenen Weindekanter zeigen? In Venedig gibt es viele Glasbläserwerkstätten, aber unsere nimmt eine einzigartige Stellung ein. Die Stücke werden alle in liebevoller Handarbeit auf der Nachbarinsel Murano hergestellt. Aus Brandschutzgründen wurden alle Glasöfen von Venedig einst auf diese Insel verlagert und …“
Er unterbrach ihr Verkaufsgequatsche mit einer kurzen Handbewegung und sagte leise, damit niemand anderes es hören konnte: „Ich habe keine Zeit für Geschichtsunterricht. Ich suche Luciana Rossetti. Machen Sie mir nicht vor, dass Sie nicht wüssten, wer sie ist.“
„Bitte sehen Sie hier“, sagte die Frau. Ihre Augen funkelten dämonisch, dann zischte sie: „In Venedig haben wir eine Abmachung, eure und unsere Art. Wir stören das Gleichgewicht nicht.“
„Dann sagen Sie mir, wo Luciana ist.“
„Ich habe die Schlampe seit Jahren nicht gesehen“, presste sie voller Verachtung hervor. „Sie hat sich nicht dazu herabgelassen, diese Galerie zu betreten.“
Sie log, das spürte Brandon. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
„Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mich hier kurz umsehe.“
Die Frau packte ihn am Arm. „Was bilden Sie sich eigentlich ein? Glauben Sie, Sie könnten hier so mir nichts,
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