Im Bann der Liebe
ließ Victoria bei Maisie, holte ihre Börse, in der kaum noch Geld war, die Notizen, die sie sich gemacht hatte, um sich als Klavierlehrerin anzubieten, und verließ das Haus.
Es war kalt und sonnig draußen. Fröhlich machte Susannah sich auf in das Zentrum von Seattle, die Börse unter dem Arm geklemmt. Sie brauchte ein paar Dinge aus Aubreys Laden - Notenblätter, Papier, Nägel und einen kleinen Hammer, um ihre Plakate anschlagen zu können.
Als sie am Laden ankam, der sich wie ein römischer Tempel gegen die grüne Umgebung und den blauen Himmel abhob, war Aubrey nirgends zu sehen. Sie kaufte Papier, eine Feder, blaue Tinte und die anderen Utensilien. Anschließend ging sie in den Speisesaal des Washington Hotel, wo sie mit John Hollister und mit Ethan schon gewesen war, und bestellte sich eine Tasse Tee. Während sie trank, schrieb sie ihre Plakate.
PRIVATER KLAVIERUNTERRICHT schrieb sie in großen Buchstaben. ANGEMESSENER PREIS. WENDEN SIE SICH AN SUSANNAH MCKITTRICK, 8CHURCH STREET.
Nach drei Tassen Tee war sie fertig und verließ zufrieden das Hotel. Nachdem sie ihre Plakate an strategisch ausgesuchten Telegrafenpfosten angebracht hatte, was eine weitere Stunde dauerte, ging sie nach Hause, wo gleich darauf ihr erster Schüler eintraf. Sie war überrascht, dass kein Kind, sondern ein älterer Mann um die siebzig vor ihr stand, gut gekleidet, aber ein bisschen merkwürdig.
»Ich wollte immer schon Klavier spielen«, erklärte er begeistert.
Susannah wollte ihn nicht verletzen. Es schien ihm ernst zu sein. »Ich fürchte, ich habe mich auf Kinder eingestellt, Mr. ...«
»Nennen Sie mich einfach Zacharias«, bat er hoffnungsvoll. Er hielt seinen Hut in der Hand, ein grauer Bart zierte sein Kinn. »Ich habe meinen Vornamen schon so lange nicht mehr gehört, dass ich mich kaum noch daran erinnere. Ich habe mich so darauf gefreut, alles über Musik zu lernen, Miss.«
Susannah verkrampfte sich. Zacharias war ein Schüler wie jeder andere - relativ betrachtet - und hatte sichtlich die Mittel, um für den Unterricht zu bezahlen. »Haben Sie früher schon einmal gespielt?«
Zacharias hatte eine Hand an die Türklinke gelegt. »Nein, Miss, ich bin völliger Anfänger. Ich dachte, wenn ich Klavier spielen lerne, interessiert sich eine der feinen Frauen aus dem Osten für mich. Die mögen so was. Aber was sage ich, Sie sind ja selber so eine Lady.«
Susannah war gerührt, dass dieser Mann sich so sehr nach vornehmer Damengesellschaft sehnte, dass er sich so spät noch entschloss, etwas Neues zu lernen. Aber sie war auch amüsiert von seinem Kompliment.
»Die Stunde kostet fünfzehn Cent«, erklärte sie. »Ich erwarte, dass meine Schüler sorgfältig lernen, deshalb müssen Sie irgendwo üben können.«
Zacharias strahlte. »Ich zahle einen Vierteldollar«, sagte er. »Und sie werden niemanden treffen, der härter arbeitet als ich. Ich habe mir ein Klavier für mein Haus gekauft. Ist extra aus San Francisco gekommen.«
Susannah schluckte. »Kommen Sie herein. Wenn Sie wollen, fangen wir sofort an.«
»Gerne, Miss. Sie machen einen alten Mann wirklich glücklich.«
Sie ging zum Salon voran, wo das Klavier stand, und deutete auf den Stuhl davor. Zacharias setzte sich und bewegte eifrig die arthritischen Finger.
»Wir beginnen mit dem mittleren C«, begann Susannah. Ein Vierteldollar war ein Vierteldollar. Vielleicht hatte sie in den letzten Jahren immer zu wenig verlangt.
Eine endlose Stunde später hörte der Mann auf, das herrliche Instrument zu quälen, zahlte und ging. Sie einigten sich darauf, dass er am folgenden Tag wiederkäme. Susannah sah dem resigniert entgegen.
»Was um Himmels willen haben Sie getan?«, fragte Maisie sofort, als Susannah in die Küche kam, um sich einen Tee zu machen. »Das klang ja, als hätten Sie das Klavier auseinander genommen.«
»Sie wissen sehr gut, dass ich eine Klavierstunde gegeben habe«, wies Susannah sie zurecht und füllte den Kessel. »Ich habe gesehen, wie Sie durch den Türspalt gelinst haben, Maisie, also geben Sie sich keine Mühe zu flunkern.«
»Eine Klavierstunde, tatsächlich?« Maisie grinste.
»Was sollte es sonst gewesen sein?«, gab Susannah ungeduldig zurück. Sie hatte in der Nacht nicht gut geschlafen, und diese Klavierstunde war eine Strapaze gewesen.
»Das kann ich Ihnen sagen«, verkündete Maisie verzückt. Sie bügelte noch immer, und die Küche roch nach frischer Wäsche. »Dieser Mister ist gekommen, um Ihnen den Hof zu machen. Wenn
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