Im Bann der Träume
Vater starb, zum offenen Krieg geworden. Als dann Tolskegg die Zügel ergriff und die Uhr des Wissens um ein Jahrtausend zurückdrehte, da schlug ihr Widerwille gegen die sture Dummheit dieser Menschen in Haß um.
Und jetzt, da Charis die Enttäuschung auf Demeter hinter sich hatte, sah sie sich einer neuen Serie von Fragen gegenüber, auf denen sie nicht einmal herumkauen konnte, weil sie den Vorhang nicht zu fassen vermochte, der Wirklichkeit und Illusion trennte.
»Das werde ich noch herauskriegen«, schwor sich Charis. Sie wußte gar nicht, daß sie laut gesprochen hatte, bis sie das Echo ihrer Worte hörte. Sie waren ein Versprechen, und sie war gewohnt, Versprechen zu halten.
Der Stern, der in der Spalte über ihr funkelte, war der einzige, den sie sah. Sie lauschte nach dem Tuckern eines Hubschraubers und glaubte, ganz weit weg einen schwachen Ton zu vernehmen. »Dann wolltet ihr wohl nicht, daß man mich sieht?« fragte sie, auch diesmal wieder laut. »Warum? Weil mir Gefahr droht, oder weil ich euch entkommen könnte? Was wollt ihr von mir?«
Schlagartig war das Gefühl des Eingesperrtseins verschwunden. Charis konnte sich wieder bewegen. Sie setzte sich am Eingang der Spalte nieder, und schaute auf das Tal hinaus, das in einem gespenstischen Lichtschimmer vor ihr lag. Ein sanfter Wind raschelte im Laub der Büsche, und sie schienen auf spukhafte Art zu tanzen. Etwas zirpte, ein Nachtwesen schnaufte. Sonst vernahm sie kein Geräusch. Charis war wieder unendlich müde, seit der Druck des Eingesperrtseins von ihr genommen war.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag warme Sonne über dem Land. Sie erhob sich von den trockenen Blättern, die ihr als Bett gedient hatten und ging dem Plätschern einer Quelle nach, an der sie trank und ihr Gesicht wusch. Nun mußte sie daran denken, daß sie vielleicht noch einen weiten Weg vor sich hatte. Sie aß daher nur einen der beiden Fladen und zwei der Früchte, die ihr von der Mahlzeit am Plateau geblieben waren. Es war ja nicht unbedingt zu erwarten, daß man sie erneut mit Essen versorgen würde.
Sie wandte sich nach Süden; obwohl jeder Muskel sie schmerzte, kehrte sie zu ihrer Spalte zurück und entdeckte, daß sie in tieferliegendes Gelände führte. Im Westen formte die Klippe eine Wand zwischen der See und tiefliegendem, fruchtbarem Gebiet, östlich von ihr lag ein Wald mit den höchsten Bäumen, die Charis je gesehen hatte. Ihr dunkles Laub erschien ihr undurchdringlich. Das Buschwerk am Waldrand war niedriger und dünner und ging schließlich in eine Grasfläche über; sie war wie ein dicker, weicher Moosteppich, da und dort von dichten Blumenpolstern durchsetzt, die auf dem Hintergrund des dunklen Waldlaubes ungewöhnlich blaß aussahen. Ihr war, als seien das die Geister jener starkfarbenen Blüten, die sie auf anderen Welten gesehen hatte.
Natürlich hätte sie am liebsten den Moosteppich überquert, aber da hätte man sie nur allzu leicht gesehen. Andererseits hatte sie selbst ungehinderte Sicht. Charis schwang ihre Waffe und betrat die Grasfläche. Hielt sie sich an den Verlauf der Klippe, dann mußte sie nach Süden gelangen.
Hier war es wärmer als am Meeresufer. Das weiche Moos tat ihren geschundenen Füßen wohl und schonte die Reste ihres Unterhemdes, mit denen sie umwickelt waren. Das hier war das schönste Fleckchen, das sie auf Warlock bisher gesehen hatte.
Ein Flügelschlag ließ sie erstarren; es war aber, wie sie erleichtert feststellte, kein Klappervogel, sondern ein wirklicher, gefiederter Vogel, dessen Federn ebenso blaß waren wie die Farben der Blumen; im Gegensatz dazu war der Kopf von einem leuchtenden Korallenrot. Das Tier flog weiter und verschwand hinter den Klippen.
Gemütlich schlenderte Charis weiter, besah dann und wann eine Blume oder ein Insekt. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich nun Zeit lassen konnte. Während einer Rast bemerkte sie ein etwa fingerlanges Tier, das aufrecht auf kurzen Hinterbeinchen dahertrippelte und mit flossenähnlichen »Händchen« in der Erde grub. Es fand zwei kleine, graue Kugeln, die es plattdrückte; zwischen diesen Kugeln war ein zusammengeringeltes Ding mit unzähligen Beinen, das einer Raupe glich. Das Tierchen streifte sorgfältig die Erde ab und verspeiste es mit offensichtlichem Appetit. Dann trippelte es weiter, bückte sich ab und zu und suchte nach weiterer Nahrung.
Der Mittag war vorüber, und Charis ging noch immer über weichen Rasen. Nun hielt sie bewußt Ausschau nach einer
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