Im Bann des Fluchträgers
einem geflüsterten Dank an Elis – es war ein Führungsseil! Mit neuem Mut ging er Schritt für Schritt am Seil entlang, stieg hinab in pechschwarze Kammern, in denen er die Augen schloss, da ihn die Vorstellung von Blindheit beunruhigte. Er kletterte über Geröllhaufen, hörte vielgliedrige Beine, die vor ihm flohen, doch er ignorierte den Schreckensschauder, der ihm die Haare zu Berge stehen ließ, und ging weiter. Nach wenigen Biegungen, denen er am Seil entlang folgte, begann ihn sein Zeitgefühl zu verlassen. Hinter sich hörte er ein Geräusch, das anders war als das Trippeln und Scharren der blinden Insekten. Es war ein Streifen, kaum vernehmbar, ein schleichender Schritt. Ravin schluckte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er versuchte sich zu beruhigen, indem er sich sagte, dass seine Einbildung und die Dunkelheit ihm einen Streich spielten. An seinem Griff am Führungsseil spürte er, wie sehr seine Hand zitterte. Wenn es eine Martiskatze war, könnte sie ihn zwar hier erlegen – aber auch sie würde in der absoluten Dunkelheit nicht mehr sehen als er. So leise wie möglich tastete er nach seinem Schwert und ging rückwärts. Für einen entsetzlichen Moment glaubte er das Tappen von Schritten zu hören, etwas bewegte sich auf ihn zu – mal auf zwei, mal auf vier Beinen. Er hielt die Luft an und tastete sich weiter. Ganz plötzlich streifte etwas das Seil! Es vibrierte, dann lag es wieder still in Ravins Hand. Das Scharren war verstummt.
Nach endlosen Schritten, die er längst nicht mehr zählte, nach mehreren Stürzen und einem namenlosen Grauen im Genick, begann er endlich, endlich die Umrisse von kantigen Wänden zu erkennen. Das Seil endete in einem Knoten an einem rostigen Ring in der Wand, dann folgte ein schmaler Gang, durch den er auf Knien und Händen kriechen musste. Plötzlich berührten seine Finger sonnenwarmes Gras. Tageslicht blendete ihn. Er schloss die Augen und ließ sich fallen, roch die Erde, die Halme, sog den Duft des Waldes tief in seine Lungen und war für einen Moment glücklich, obwohl seine Schultern schmerzten und seine Zähne noch immer von der Kälte im Inneren des Berges klapperten. Lange Zeit saß er im Gras, blinzelte und wärmte sich auf, bis er vor lauter Blinzeln in einen traumlosen Schlaf sank.
W
ach auf!«, flüsterte eine Stimme in sein Ohr. Neben ihm knisterte und prasselte es, als sei ein Lagerfeuer in der Nähe. Wärme breitete sich auf seiner Wange aus. Ravin schlug die Augen auf und erschrak. Zwei lodernde Sonnen blickten ihn an, flammendes Haar züngelte ihm entgegen, ein Funkenregen umwirbelte ein Mädchengesicht. Der launische Feuermund lachte ihn an.
»Ich will nur einen Kuss!«, bat das Flammenmädchen und streckte Ravin zwei Hände wie Lavaströme entgegen. Hastig rutschte er ein Stück zurück, bis sein Rücken den Fels berührte. Das Feuermädchen richtete sich auf, wirbelte um sich selbst und blieb dann stehen, eine schlanke Flamme, die im Wind zitterte. Ihr Gesicht war sanft und voller Sehnsucht, weich geschwungen ihre Wangen. Ihr Flammenhaar züngelte über Rücken und Schultern, umfloss kleine, runde Brüste, teilte sich weiter unten und gab den Blick frei auf den energischen Schwung ihrer Hüften und auf weiß glühende Beine, die in einem Funkenwirbel endeten.
»Du musst mich nicht küssen, wenn du nicht möchtest«, sagte sie und lachte wieder ihr prasselndes Lachen. »Dann küsse ich dich eben später – wenn du schläfst.«
Ravin machte den Mund zu und stand auf.
»Warum willst du mich küssen?«, fragte er.
»Du gefällst mir«, sagte sie und flackerte übermütig. »Weil du keiner von den Erloschenen bist. Die kann ich nicht leiden. Es sind inzwischen so viele, das wird langweilig! Du dagegen bist einer von den Horjun. Du brennst nicht nur
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