Im Bann des Prinzen
dem Klavierhocker nieder und streckte die Hände aus, als sie auf einmal das Gefühl bekam, beobachtet zu werden. Abrupt fuhr sie herum.
In einem Sessel neben dem Fenster saß Enrique Medina und erwiderte ihren Blick. Trotz seiner Krankheit strahlte der Monarch Kraft und Charisma aus. Er nestelte geistesabwesend an einer Golduhr. „Spielen Sie ruhig.“
Hatte Tony sie absichtlich hierher geschickt, weil er gewusst hatte, dass sein Vater hier sein würde? Angesichts der distanzierten Beziehung der beiden ging sie eigentlich nicht davon aus. „Ich möchte Sie nicht stören.“
„Das tun Sie nicht. Wir hatten bisher noch keine Gelegenheit, uns einmal allein zu unterhalten“, sagte er.
Obwohl sie den König während der vergangenen zwei Wochen täglich gesehen hatte, waren diese Begegnungen eigentlich nur auf die Mahlzeiten beschränkt geblieben. Den Großteil seiner Zeit hatte er mit seiner Tochter verbracht. Aber da Eloisa und ihr Mann am Nachmittag abgereist waren, fühlte Enrique sich wohl ein wenig einsam.
Sehnsüchtig strich sie noch einmal über die Tasten. „Wer spielt auf dem Klavier?“
„Meine Söhne hatten Klavierunterricht. Das war Teil ihres Lehrplans.“
„Natürlich, das hätte ich mir denken können“, meinte sie. „Tony kann also spielen?“
Der König lachte. „Das wäre übertrieben. Mein Jüngster kann zwar Noten lesen, aber er saß nicht gerne still. Antonio hat den Musikunterricht immer im Schnelldurchgang absolviert, damit er nach draußen konnte.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Dann kennen Sie ihn gut.“ Seinem scharfen Blick entging nichts. „Mein mittlerer Sohn, Duarte, ist sehr viel disziplinierter, ein großer Kampfsportexperte. Aber Musik?“ Er machte eine verächtliche Handbewegung. „Er spielt wie ein Roboter.“
Neugierig, mehr über Tonys Familie zu erfahren, hakte sie nach: „Und Ihr ältester Sohn, Carlos? Was hat er aus den Klavierstunden gemacht?“
Ein Schatten huschte über Enriques Gesicht, doch sofort hatte er sich wieder im Griff. „Er besaß großes musikalisches Talent. Jetzt ist er Chirurg und nutzt diese Gabe auf andere Art.“
„Interessant“, sagte sie und berührte noch einmal vorsichtig die glänzenden Tasten.
Vielleicht konnte sie versuchen, eine Arbeit zu finden, die ihrer Liebe zur Musik Rechnung trug? Wie schön wäre es, auf diese Weise wieder Freude in ihr Leben zu bringen.
„Empfinden Sie etwas für meinen Sohn?“, fragte Enrique unvermittelt.
Seine direkte Frage ließ Shannon zusammenzucken, doch sie hätte wissen müssen, dass dieser intelligente Mann nicht nur auf Small Talk aus war. „Das ist eine sehr persönliche Frage.“
„Und ich habe vielleicht nicht mehr die Zeit, um lange auf Ihre Antwort zu warten.“
„Sie spielen die Todeskarte aus? Das ist ziemlich drastisch, finden Sie nicht, Sir?“
Er lachte, genauso herzhaft wie Tony. „Sie haben Mumm. Sie passen gut zu meinem sturen Sohn.“
Ihre Verärgerung über seine indiskrete Frage ließ nach. Welches Elternteil wollte nicht, dass die Kinder glücklich und zufrieden waren?
„Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir und meinem Sohn Ihr Haus als Zufluchtsort zur Verfügung gestellt und uns damit die Möglichkeit gegeben haben, Sie kennenzulernen.“
„Eine sehr diplomatische Antwort, meine Liebe. Es ist weise, wenn man erst nachdenkt, bevor man handelt. Reue ist etwas Furchtbares“, meinte er. „Ich hätte meine Familie schon früher aus San Rinaldo fortschicken sollen. Ich habe zu lange gewartet, und Beatriz hat dafür mit dem Leben bezahlt.“
Die Unterhaltung hatte eine düstere Wendung genommen. Shannon hatte zwar weitere Einblicke in Tonys Leben haben wollen, doch dies hier ging sehr viel tiefer als erwartet.
„An jenem Tag, als der Aufstand begann, herrschte solch ein Chaos“, fuhr Enrique fort. „Wir hatten geplant, dass meine Familie auf dem einen Weg flüchten sollte, während ich einen anderen Weg wählen wollte.“ Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. „Ich habe es geschafft, aber die Rebellen fanden meine Familie. Carlos wurde verletzt, als er versuchte seine Mutter zu retten.“
Das Bild von Gewalt und Terror, das er zeichnete, war etwas anderes als ein Kinofilm, so irreal, und doch hatten sie es erlebt. „Tony und Ihre anderen Söhne haben den Anschlag auf ihre Mutter miterlebt?“
„Antonio hatte noch ein Jahr lang Albträume. Anschließend war er wie besessen vom Strand und vom Surfen. Von da an hat er darauf hin
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