Im Banne des stuermischen Eroberers
Aber niemand hat ihn gesehen. Es ist, als sei er aus dem Burghof geritten und vom Erdboden verschluckt worden.“
Hethe seufzte. Er wirkte erschöpft. „Das klingt nicht gut.“ „Stimmt“, pflichtete William widerstrebend bei. „So lange sollte er nicht auf sich warten lassen.“
„Er könnte sich verletzt haben oder ...“ Hethe brach beklommen ab.
„Oder er fürchtet, dass du hinter seine Machenschaften gekommen bist“, fügte William an.
Scharf sah Hethe ihn an. „Woher sollte er das wissen?“
„Nun, Stephen war nie ein Dummkopf. Und dann ist da noch Lady Helen.“
„Ich?“ Helen sah ihn aus großen Augen an. „Was ist mit mir?“ „Er kann sich denken, dass Ihr und Hethe Euch unterhaltet und dabei Dinge ans Tageslicht befördert.“
„Aye“, erwiderte Hethe versonnen.
Nachdenklich nahm sie das Gewand auf, das sie dabei war zu flicken, und setzte sich wieder auf ihren Sessel. Sie merkte, dass ihr Gemahl ihr zuschaute und das Kleid als den zerschlissenen, unansehnlichen Lumpen erkannte, den sie an ihrem letzten Tag als alleinige Herrin von Tiernay getragen hatte.
„Weshalb macht Ihr Euch die Mühe, das Ding zu flicken?“, wollte er verärgert wissen, als sie die Nadel ansetzte. „Ihr besitzt doch gewiss noch andere Gewänder?“
„Durchaus“, entgegnete sie gelassen, weil sie wusste, dass seine Reizbarkeit auf seine Sorge um Stephen zurückging. „Auf Tiernay.“
„Auf Tiernay? Wollt Ihr damit sagen, dass dieser Fetzen da und das Kleid, das Ihr am Leibe tragt, die einzigen sind, die Ihr dabei habt?“, fragte er entgeistert.
Helen sah ihn durchdringend an. „Lord Templetun hatte es eilig. Er hat Ducky angewiesen, nur ein Kleid einzupacken und nach unten zu bringen, ehe er mich auch schon zur Tür hinausgeschoben hat.“
„Verfluchter Idiot!“, murmelte Hethe und rutschte ruhelos auf seinem Sessel hin und her. „Tja, dagegen müssen wir etwas unternehmen. Wir werden rasch nach Tiernay reiten, was vermutlich ohnehin das Beste ist. Eure Tante sorgt sich bestimmt um Euch. Ich bin sicher, sie wird erleichtert sein, Euch lebendig und wohlauf zu sehen. Zweifellos fürchtet sie, dass ich Euch längst gemeuchelt habe“, setzte er mürrisch hinzu.
„Zweifellos“, stimmte sie amüsiert zu. „Wahrscheinlich bereitet sie just meine Beisetzung vor.“
Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu und wollte kontern, als er das Lachen in ihren Augen sah. Sofort entspannte er sich und schmunzelte. „Aye. Vielleicht kommen wir ja noch rechtzeitig, um Eurer Beerdigung beizuwohnen. Wir könnten schauen, ob wir mit dem Ablauf zufrieden sind, und Eurer Tante Anregungen für die Zukunft geben.“
Helen lachte leise und neigte den Kopf über ihre Näharbeit. Hethe schwieg. Sie spürte, dass er sie beobachtete, doch es war William, an den er schließlich das Wort richtete.
„Wir brechen morgen auf. Nach der Mittagsstunde.“
Als Helen aufschaute, sah sie den Ritter nicken. „Ich werde mich darum kümmern. Wie viele Männer willst du mitnehmen?“ Er dachte kurz nach, bevor er mit den Achseln zuckte. „Du plus zehn weitere sollten genügen. Es ist ja keine lange Reise.“
Erneut nickte William und wollte gehen, als Hethe hinzufügte: „Schick mir Johnson her. Er soll das Amt des Kastellans übernehmen, und ich will ihm einbläuen, wie er sich den Menschen gegenüber zu verhalten hat. Und was er mit Stephen zu tun hat, falls der in unserer Abwesenheit zurückkehrt.“
William hob die Hand als Zeichen dafür, dass er verstanden habe, und strebte aus dem Portal.
„Weshalb nicht William?“, fragte Helen, doch Hethe sah sie nur verständnislos an. „Weshalb macht Ihr nicht William zu Eurem Kastellan?“
Die Frage schien ihn ins Grübeln zu bringen. Endlich schüttelte er achselzuckend den Kopf. „Weil William stets an meiner Seite ist. Er ist mein ranghöchster Mann.“
„Gewiss, aber...“
„Zudem besitzt er nicht die Geduld, die ein Kastellan haben sollte. Er wird ja jetzt schon unruhig, und das nach nur wenigen Tagen auf Holden. Unsere kleine Reise dürfte ihn ein wenig aufmuntern.“
Schweigend nahm sie seine Erklärung hin. „Meint Ihr nicht“, fragte sie schließlich, „dass wir noch einen oder zwei Tage warten sollten, ehe wir aufbrechen?“
„Warten?“ Hethe runzelte die Stirn.
„Aye. So könnte Eurer Knöchel zumindest ansatzweise heilen, und womöglich taucht Stephen bis dahin wieder auf.“
Er dachte kurz nach. „Aber Ihr habt doch nur zwei Kleider.“ „Hm,
Weitere Kostenlose Bücher