Im Banne des stuermischen Eroberers
Ungeheuers, als das sie ihn stets betrachtet hatte, war er ansehnlich und rüstig. Statt jeden erbost anzufunkeln und Bedienstete sowie Leibeigene für die kleinsten Vergehen züchtigen zu lassen, lächelte er meist und war beinahe charmant zu nennen. Helen dachte an das verdorbene Essen, die kalte Kammer, das Bad am ersten Tag und all die anderen Dinge, die sie ihm angetan hatte. Obwohl er denkbar schlecht behandelt worden war, hatte er nie verlangt, dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde.
Zugegeben, da war die Sache mit den Pfingstrosen auf der Lichtung, aber bevor er sie hatte Platz nehmen lassen, hatte er ihr die Chance gegeben, zur Burg zurückzukehren. Sie selbst hatte darauf bestanden zu bleiben, weil sie unbedingt gewollt hatte, dass er die ungenießbaren Speisen vertilgte, die sie auf den Ausflug mitgenommen hatte.
All dies hatte in ihr die Befürchtung geweckt, dass sie sich geirrt hatte - dass sie womöglich von einigen bauernschlauen Hörigen, die ihr gutes Herz ausgenutzt hatten, mit einer erfundenen traurigen Geschichte genarrt worden war. Beinahe wäre sie dem Glauben verfallen, dass Lord Holden gar nicht der grausame, herzlose Bastard war, für den sie ihn gehalten hatte, und dass die schändlichen Streiche einen Unschuldigen getroffen hatten. Das hätte ihr wahrhaft zu schaffen gemacht.
Aber die Stimmung, die sie inmitten der Menschen von Holden spürte, sagte ihr, dass sie richtig gelegen hatte. Diesen Leuten ging es schlecht, und zudem hatten sie schreckliche Angst. So gut wie jedem, an dem sie vorbeikamen, huschte Erleichterung übers Gesicht. Und diese Erleichterung, so argwöhnte Helen, war der Tatsache zu verdanken, dass es nicht ihr Herr war, der da einritt.
Vor dem Portal des Wohnturms wollte Helen absitzen, doch Lord Templetun hielt sie zurück, indem er sein Pferd neben das ihre lenkte und ihr eine Hand auf den Arm legte. Widerstrebend wandte sie sich ihm zu mit der Befürchtung, dass er mit seinen Belehrungen noch nicht fertig war. Sie hatte recht.
„Sobald ich Lord Holdens Kastellan ausfindig gemacht und Euch in seine Obhut gegeben habe, breche ich auf, um Seine Lordschaft zu suchen. Während Ihr wartet, solltet Ihr Buße tun und ernsthaft in Erwägung ziehen, Euch zu ändern - ansonsten werdet Ihr noch im Kloster oder am Schandpfahl enden.“
Helen spürte sich angesichts dieser Drohung erbleichen. Daher war sie ungemein froh, als das Portal vor ihnen aufschwang - bis ihr Gemahl erschien. Zunächst jedenfalls glaubte sie dies, doch als der Mann aus dem Schatten trat, erkannte sie, dass es nicht Lord Holden war.
Der Krieger war ebenso hochgewachsen und kräftig wie ihr Gemahl - er war, wie auch Sir William, von gleicher Statur wie Lord Holden, und daher rührte wohl die flüchtige Verwechslung. Aber damit endete auch schon alle Ähnlichkeit. Während ihr Gemahl dunkles Haar hatte, war das dieses Mannes tiefrot. Und war Lord Holdens Haut braun gebrannt, weil er sich viel im Freien aufhielt, war die des Burschen vor ihr weit blasser. Zudem waren seine Gesichtszüge weicher, und seine Stirn wies tiefere Sorgenfalten auf.
„Ah, Sir Stephen“, begrüßte Lord Templetun den Jüngeren und stieg rasch vom Pferd. „Ich habe Lady Holden hergebracht, damit sie hier auf Euren Herrn warten kann.“
Bei den Worten fuhr Helen zusammen. Es war das erste Mal, dass jemand sie mit ihrem neuen, durch die Heirat erworbenen Titel anredete: Lady Holden. Sie fand keinen Gefallen daran. Zu lange hatte sie auf den Namen Holden geschimpft, als dass sie ihn nun zu tragen wünschte. Dennoch zwang sie sich, den Mann anzulächeln, der vom Rang her gleich nach ihrem Gemahl und Sir William kam. Eilfertig kam Sir Stephen auf sie zu, und beinahe hätte Helen laut aufgestöhnt, als sie sah, dass er ihr beim Absteigen helfen wollte. Sofern der Mann nicht seinen Riechsinn eingebüßt hatte, würde er ...
Ah, nay , mit seiner Nase ist alles in Ordnung, dachte sie seufzend, als er jäh zum Stehen kam, ungläubig die Augen aufriss und die Nase zukniff. Helen lächelte ihn entschuldigend an und machte sich daran, allein abzusteigen. Aber Lord Holdens Kastellan war offenbar zu ritterlich, um dies zuzulassen. Er drehte den Kopf zur Seite, und Helen sah, wie seine Brust sich dehnte, als er noch einmal tief einatmete. Dann hastete er zu ihr und fing sie in dem Moment auf, da sie sich zu Boden gleiten ließ.
„Habt Dank“, murmelte sie, ehe sie bemerkte, dass sie den Mann in eine verzwickte Lage gebracht
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