Im Bett mit
einem Star als Vater wohl sein mochte? Doch Stars wie Clark Gable verirrten sich nicht in das Leben einer unscheinbaren Cutterin, wie Mum Gladys es war. Norma hatte sie mehrmals mit ganz unbedeutenden Burschen gesehen, und so einer konnte doch unmöglich Normas Vater sein! Nein, der musste etwas Besonderes sein, weil sie sich selbst im Geheimen auch für etwas Besonderes hielt.
Natürlich gab es einen Riesenkrach, als Tante Ida das Foto entdeckte. Sie war eine strenge Frau, ihr Leben war ausgefüllt von Beten und Arbeiten und »Rechenschaft ablegen«. Im Mittelpunkt all ihrer Bemühungen stand die Furcht, in Sünde zu fallen. Zu spielen und Zeit zu vertrödeln, war Sünde, Tanzen war Sünde, und natürlich war es auch Sünde, ins Kino zu gehen. »Wir gehen Sonntags in die Kirche und nicht ins Kino«, schärfte sie ihrer kleinen Schutzbefohlenen ein. »Stell dir vor, du sitzt im Kino, und die Welt geht unter; dann verbrennst du mit all den anderen schlechten Leuten.« Das Bild des bevorstehenden Weltuntergangs setzt sich in Normas Kopf fest und lässt ihre Nächte zu einer kleinen Hölle werden, in der die Angst, Tante Idas Vorstellungen könnten sich bewahrheiten, ein grausames Spiel mit ihr treibt.
So lag sie oft stundenlang wach und betete zu einer imaginären Gottheit, sie möge doch bitte, bitte die Welt nicht untergehen und sie nicht wegen ihrer kleinen Verfehlungen in der Hölle verbrennen lassen. Doch Tante Ida redete viel von diesem bevorstehenden Weltuntergang und wollte sich und ihre Familie ordentlich darauf vorbereitet sehen. Das war allerdings schwierig mit einer Person, die so leichtfertig war wie Mum Gladys und die auch das unschuldige Wesen, das Norma noch war, dazu anhielt, sich sündhaft zu benehmen. Die von Tante Ida suggerierten Bilder lasteten schwer auf dem Kind, und die dadurch geschürten Ängste geisterten durch ihre Träume. Norma begann sich mehr und mehr vor den langen schwarzen Nächten in ihrem Kinderbett zu fürchten.
Ein freundlicher Zufall bietet Linderung ihrer geheimen Qualen. Eines Tages trottet ein struppiger herrenloser Hund hinter ihr her und sucht offenbar in Tante Idas strikt geführtem Haushalt Zuflucht vor den Widrigkeiten seines Hundelebens. Die beiden, das kleine Mädchen und der Streunerhund, haben Glück: Tippy, so wird er genannt, darf bleiben. Er setzt es sogar durch, im Bett seiner kleinen Freundin zu schlafen. Die Wange dicht an sein nunmehr wohlshamponiertes Fell gedrückt, kann Norma ihre Ängste leichter aus ihrem Bett verdrängen.
Träume anderer Art tauchten nun in ihren Nächten auf. Einer davon ist besonders obsessiv. Später, in ihren endlosen Therapiesitzungen, wird sie wieder darauf zurückkommen: »Ich stand völlig nackt mitten in der Kirche, und um mich lagen alle Leute auf dem Boden, und ich stieg nackt über sie hinweg, aber ohne auf sie zu treten. Dabei empfand ich ein Gefühl von Freiheit, das mich wie ein Rausch erfüllte.«
Eine kleine Tragödie beendete Normas Aufenthalt im Schoß ihrer bigotten Pflegefamilie, wo sich alles um Pflicht und Sünde gedreht hatte: Ein missgünstiger Nachbar erschoss Tippy, und Norma versank in den Abgrund einer endlosen Depression. Mum Gladys und deren Freundin Grace kamen angereist und nahmen sie kurzerhand von Los Angeles nach Hollywood mit, nachdem sie Tippy gemeinsam begraben hatten.
Der Umzug bedeutete, dass ihr Leben plötzlich einen anderen Verlauf nahm. Die beiden Frauen arbeiteten hart, in einer Zeit, die noch an den Folgen der großen Wirtschaftskrise litt, konnte man sich keine Nachlässigkeiten leisten; doch sie verstanden es auch, ihr Leben zu genießen. Sie tranken, tanzten, lachten, gingen ins Kino, kurz, taten alles, wovor Tante Ida sie gewarnt hatte, ohne dass ein Schwefelregen auf sie niederging. Soweit es Norma betraf, hatte sie auf einmal jede Menge Freiheiten. Wenn die beiden Frauen keine Zeit für sie hatten, verbrachte sie viele Stunden in einem der zahlreichen Kinos. »Dort saß ich oft tagelang und beobachtete die prächtigen Stars, vor allem eine hinreißende Blondine, die Jean Harlow hieß und ein großer Stummfilmstar gewesen war. So wie sie wollte ich einmal werden: selbstbewusst und unwiderstehlich!«, verkündete die graue Maus, die Norma immer noch war. Doch daheim, in dem kleinen Haus, das die beiden Frauen mit ihr bewohnten, überfiel sie der Katzenjammer wegen all der »Verfehlungen«, deren sie sich während des Tages schuldig gemacht hatte. Dann flüsterte sie endlose Gebete
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