Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Als ich aufwachte, merkte ich, dass das kleine Bootshaus ruckte und zitterte.
    »Wach auf!«, flüsterte ich.
    »Was ist?«
    »Wir sollten schleunigst ins Haus hinaufgehen.«
    Ich blickte aus dem Fenster: Baumstämme und starke, von den Bäumen gerissene Äste trieben mit rasender Geschwindigkeit an uns vorbei, ein Gartensessel blitzte weiß auf, eine Matratze entblößte ihre silbernen Sprungfedern.
    »Wahrscheinlich ein Tornado und wir sind mitten auf dem Präsentierteller«, sagte ich und tastete nach dem Radio, doch Amanda Ruth zog mich an sich. Sie küsste meinen Hals, ließ ihre Hand unter mein T-Shirt gleiten. Sie rollte mich auf den Rücken und legte sich auf mich. Ihre Haare bedeckten mein Gesicht. Donnerschläge trommelten auf das Dach, mit einer so ohrenbetäubenden Lautstärke, dass sie von den morschen Holzwänden zurückgeworfen wurden. Ich lauschte, wartete auf das schrille Pfeifen einer fernen Lokomotive. Da ich an der Golfküste aufgewachsen war, kannte ich dieses Geräusch und fürchtete es am meisten. Ich wusste, dass ein herannahender Tornado leicht mit einem Zug verwechselt werden kann, dahinter verbirgt sich jedoch ein Wirbelsturm mit einem dunklen Trichter, der entfesselt durchs Land rast. Es gab Geschichten von bizarren Todesfällen und Überlebenden, die auf wundersame Weise gerettet worden waren, wie die Frau, die im Bett hochgewirbelt wurde, als sie schlief, der Tornado riss nur die Laken unter ihr weg, dann ließ er sie unversehrt auf die Matratze zurückfallen. Kleine Fischerboote wurden meilenweit von den Häusern ihrer Besitzer entfernt aufgefunden, in der Luft schwebend. Nach dem Höhenflug während des Sturms hatte sich der Bug durch den Stamm einer mächtigen Eiche gebohrt. Ein Baby wurde lebend in einem Bett aus Kiefernnadeln entdeckt, drei Tage, nachdem ein Tornado es den Armen seiner Mutter entrissen hatte.
    Amanda Ruth schüttelte ihre Haare, so dass sie mein Gesicht kitzelten. Sie drückte meine Handgelenke auf den Boden. »Ich komme dich Weihnachten besuchen«, sagte sie. »Ich wollte schon immer sehen, wie der Christbaum vor dem Rockefeller Center angezündet wird.«
    »Und wir werden im Central Park Schlittschuh laufen und die Fifth Avenue entlangschlendern, mit großen Hüten auf dem Kopf.«
    »Kaufen wir auch übel riechenden Käse im Zabar’s?«
    »Natürlich. Und wir sehen uns eine Broadway-Show an.«
    Wir küssten uns, um den Pakt zu besiegeln.

7
    Am späten Nachmittag nimmt der Fluss eine tiefgelbe Färbung an und die Luft riecht erneut nach Verwesung. Seit einigen Meilen ist das Ufer verwaist, bis auf die Bambushütten und Orangenhaine. Die Sonne steht schon tief am Himmel, als das Lichtermeer der Provinzmetropole Nanjing vor uns auftaucht, die Stadt der gigantischen Ker zen: dutzende von Raffinerien, deren schlanke Türme Flam men in die Dämmerung blasen. Es riecht, als brenne die ganze Stadt. Die Stimme aus dem Lautsprecher kündigt unsere Ankunft an: »Wir nähern uns schönes Nanjing. Bitte finden Ihr Reiseführer für faszinierenden Rundgang durch berühmte Stadt von Industrie und Kultur.«
    Nach und nach erscheinen die Passagiere auf Deck. Ihre bleichen, aufgedunsenen Gesichter sind von den Spuren eines Nachmittags gezeichnet, der mit Alkohol, Schlafen und Bingospiel verbracht wurde. Viele blinzeln und gähnen, während sie sich an das trübe Licht des verregneten Nachmittags gewöhnen. Elvis Paris erscheint an unserer Seite, den grünen Wimpel in der einen, das Klemmbrett in der anderen Hand. »Nanjing ist schöne Stadt Nummer eins in China!«, sagt er und deutet auf eine beeindruckende Reihe von Türmen, die auf dem Gipfel eines Hügels aufragen. »Nanjing produziert alle moderne Erzeugnisse für Wohl von Volk. Mineralöl, Blei, Zink, Eisen.«
    Wir fahren unter einer großen, unsäglich hässlichen Brü cke hindurch, die zu beiden Seiten von Trauben eiförmiger Laternen gesäumt und von Betontürmen gestützt wird. Die Stimme weist auf das Wahrzeichen hin: »Erste Jangtse-Brücke, erstaunliche Merkmal für chinesische Ingenieurwesen und Arbeitsmoral von Volk.« Eine riesige rote Fahne hängt von der Brücke herab, die Schrift zeichen sind groß und in Weiß gehalten. Sämtliche Reise leiter, Elvis Paris eingeschlossen, zeigen wie auf Stich-wort auf die Zeichen und die Stimme übersetzt: »Haltet die Vier Modernisierungen in Ehren. Arbeitet hart für das Volk.«
    »Was sind die Vier Modernisierungen?«, fragt Dave.
    »Jede chinesische Kind kennt Vier