Im Dunkel der Waelder
lausche aufmerksam.
»Elise!«
Ein großer Schreck, dann erkenne ich Virginies Stimme.
»Elise, wenn du wach bist, heb den Finger!«
Zeigefinger.
»Renaud sagt, daß die Bestie der Wälder Stéphane getötet hat. Um ihn dafür zu bestrafen, daß er sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hat. Hörst du?«
Zeigefinger.
»Renaud ist bei mir. Er findet dich sehr hübsch. Er sagt, wenn du tot wärest, wärest du eine hübsche Leiche.«
Sogleich stelle ich mir Virginie vor, wie sie sich über mich beugt, und hinter ihr das eiskalte Gespenst ihres Bruders; sie ganz bleich in ihrem weißen Nachthemd, mit einem langen Messer in der Hand, bereit, es mir ins Herz zu stoßen und dabei zu wiederholen ›eine hübsche Leiche‹ … Dieses Kind treibt mich noch zum Wahnsinn, ich bekomme Gänsehaut.
»Renaud hat Hunger. Er will etwas von Mamas Schokoladenkuchen. Ich gehe mit ihm zum Kühlschrank.«
Ja, genau, nimm ihn mit und verschwinde!
»Sie werden sagen, daß Stéphane sie tot gemacht hat, aber das ist nicht wahr. Renaud weiß es auch und du auch, nur wir wissen es, nur wir drei. Weißt du, das kommt daher, daß Renaud tot ist, und ich lebendig und du, du schwebst zwischen beidem … Gut, wir gehen. Ich wollte es dir nur sagen … Du darfst keine Angst vor dem Tod haben, Renaud sagt, daß es überhaupt nicht weh tut …«
Danke, das ist ja super! Trippelnde Schritte, die immer leiser werden, je weiter sie weg sind. Ich zwinge mich, gleichmäßig zu atmen. Das arme Kind ist verrückt. Vergessen wir dieses nächtliche Zwischenspiel. Ich muß wieder einschlafen.
»Virginie, bist du das?«
Hélènes Stimme.
»Ich habe nur Pipi gemacht, Mama.«
»Geh schnell wieder schlafen.«
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht, mein Liebling. Es war Virginie«, fährt sie mit leiser Stimme fort.
»Ich mag es nicht, wenn sie nachts rumläuft«, gibt Paul zurück.
Beide flüstern, doch in der völligen Stille der Nacht höre ich ihre Stimmen ganz deutlich.
»Hélène …«
»Ja?«
»Hélène, wir müssen miteinander reden.«
»Es ist spät …«
»Hélène, ist dir klar, daß Stéphane tot ist?«
»Was ist denn jetzt mit dir los?«
»Verdammte Scheiße, machst du das absichtlich, oder was?«
»Red nicht so laut, du weckst Elise auf.«
»Das ist mir egal, ich habe es satt, daß sie bei uns rumsitzt, ich bin sicher, daß sie uns nachspioniert.«
»Diesen Sommer scheinst du es aber nicht satt zu haben …«
»Du spinnst!«
»Warum? Stimmt es etwa nicht, daß sie dir gefällt? Meinst du, ich hätte dein Theater nicht bemerkt? Wie du ihr den Nacken gestreichelt hast und all das?«
Er war es also! Jetzt bin ich sicher, daß er der Mann auf der Couch war, alter Lustmolch!
»Hélène, um Himmels willen, können wir jetzt ernsthaft miteinander reden?«
»Wir reden doch, oder?«
»Na gut, auch egal. Vergiß es.«
Sie haben offenbar die Tür geschlossen, ich höre nichts mehr. Worüber wollte der lüsterne Paul reden? Auf alle Fälle hat er mich nicht mehr sonderlich ins Herz geschlossen. Keine freundlichen Worte und kein leichter Druck auf die Schulter mehr. Ich fühle mich wie eine alte Tante, die zu Besuch ist, und die man so schnell wie möglich loswerden möchte.
Bleibt mir nur noch, Schäfchen zu zählen.
10
»Guten Morgen, Elise, gut geschlafen?«
Ich schrecke aus dem Schlaf. Vermutlich bin ich beim dreitausendzweihundertfünfundfünfzigsten Schaf eingeschlafen, auf alle Fälle bin ich vollständig benommen.
»Das Wetter ist wundervoll, ein schöner Herbsttag«, fährt Hélène fort, während sie die Fensterläden öffnet.
Ich weiß nicht, warum sie ihre Zeit damit verliert, sie zu öffnen und zu schließen, denn für mich ändert das ohnehin nichts. Es läutet.
»Ah, die Haustür! Moment, ich komme gleich wieder.«
Hoffentlich schnell, denn ich muß dringend Pipi machen. Eine Männerstimme. Ich lausche. Florent Gassin. Sieh mal einer an!
»Es tut mir leid, daß ich Sie so früh störe, aber ich möchte Ihnen und Ihrem Mann einige Fragen stellen.«
»Paul ist schon weg, er bringt Virginie zur Schule, ehe er zur Bank fährt.«
»Na, das macht nichts. Hören Sie, es ist nicht für die Öffentlichkeit, ich wollte nur wissen, ob Sie etwas von dem Gerücht gehört haben, daß Sophie Migoin eine Affäre gehabt haben soll …«
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Ähm … nein danke.«
»Setzen Sie sich doch bitte. Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich komme gleich zurück.«
»Ähm … ja.«
Sie platzt in
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