Im Dunkel der Waelder
als Spionin bezeichnet. Die Zeit der nächtlichen Annäherungsversuche ist vorbei! Hat der gute Paul vielleicht andere, dringlichere Sorgen? Glücklicherweise hat Yvette gestern angerufen, sie ist wieder vollkommen hergestellt und wird mich übermorgen natürlich zusammen mit Jean Guillaume im Auto abholen. In diesem Haus verschlechtert sich die Stimmung zusehends, Paul und Hélène streiten nur noch. Sie stopft sich mit Beruhigungspillen voll, und er schreit sie an. Er hält ihr ständig vor, daß sie ärztliche Hilfe braucht. Mich hat man inzwischen im Eßzimmer abgestellt. Virginie sieht fern und scheint von all dem nichts zu bemerken.
»Virg’ mach bitte den Fernseher leiser«, brüllt Paul.
Sie stellt den Ton lauter. Ich spüre, daß es gleich zum großen Krach kommen wird.
»Hörst du nicht? Stell den verfluchten Fernseher leiser!«
Keine Reaktion. Der Pinguin zetert weiter gegen Batman.
»Himmel noch mal! Hältst du mich zum Narren?«
»Aua, laß mich los! Mama, Mama!«
Klatsch, klatsch, zwei kräftige Ohrfeigen. Virginie heult los wie eine Sirene. Hélène stürzt aufgebracht ins Zimmer.
»Laß sie los, du Miststück! Ich verbiete dir, sie anzurühren, du hast keinerlei Rechte ihr gegenüber.«
»Paß auf, was du sagst, Hélène!«
Die Stimmung wird immer angespannter. Er hat Virginie offenbar losgelassen, denn ich höre sie in ihrer Ecke schniefen.
»Ich sage, was ich will, du machst mir keine Angst!«
»Bitte hör auf damit!«
Ich ›sehe‹ sie vor mir, wie sie einander gegenüberstehen, auf den Hinterbeinen aufgerichtet, mit aufgeblähten Nüstern, zusammengekniffenen Lippen, bleich, wie alle Paare, die im Tanz des Zorns gefangen sind. Und dann unterbricht Paul den Kampf.
»Ah, du gehst mir auf die Nerven, ich verschwinde!«
»Paul, wohin gehst du?«
»Das kann dir doch egal sein! Kümmer dich um deine Tochter.«
Die Tür schlägt zu.
»Mama!«
»Ja, mein Liebling, ich bin ja da …«
»Was gibt es heute zum Abendessen?«
»In der Küche steht Pizza.«
»Kann ich beim Essen Batman anschauen?«
»Wenn du willst, aber mach nichts schmutzig.«
Ende des Kriegsszenariums. Virginie setzt sich mit ihrer Pizza vor den Fernseher, letztes Schniefen. Ich spüre, daß jemand hinter mir steht. Es ist Hélène. Sie schiebt meinen Rollstuhl in die Küche.
»Möchten Sie ein Bier?«
Zeigefinger. Oh, ja, oh, ja, ein frisches, kühles Bier …
Ich höre, wie sie den Kronkorken öffnet und das Bier in ein Glas schenkt. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, das könnte glatt ein Werbespot sein. Ah, endlich! Das Bier rinnt eiskalt durch meine Kehle, ah, auf diesen Schluck gut gekühltes Bier warte ich seit einem Jahr … Sie gibt mir noch etwas Bier, dann höre ich, wie sie selbst trinkt.
»Paul hat ganz recht, ich schlucke zuviel Tabletten. Aber ich kann einfach nicht schlafen, und ich halte es nicht mehr aus, mich nachts im Bett hin- und herzuwälzen und immer wieder über all das nachzudenken. Ich glaube, meine Ehe ist in einer Krise. Sie müssen uns für ganz schön verrückt halten.«
Kein Zeigefinger.
»Wissen Sie, ich werde Ihnen etwas sagen, was ich bisher keiner Menschenseele anvertraut habe.« Sie senkt die Stimme. »Paul ist nicht Virginies Vater.«
Beinahe hätte ich mich an meinem Bier verschluckt.
»Als ich ihn kennenlernte, war Virginie gerade geboren. Er hat mich geheiratet, sie als sein Kind anerkannt und mir versprochen, sich um sie zu kümmern, wie um seine eigene Tochter. Er hat Wort gehalten … Virginie weiß nicht, daß er nicht ihr Vater ist, ich habe es ihr nicht gesagt. Den anderen wird sie sowieso nie kennenlernen. Möchten Sie noch etwas Bier?«
Zeigefinger. Wir trinken.
»All das liegt lange zurück … ist Vergangenheit. Ich war jung. Ich war dumm. Wissen Sie, ich hatte keine einfache Kindheit. Oh, nicht was Sie denken, ich komme aus gutem Haus, aber mein Vater war nicht gerade sanft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und meine Mutter … sie sagte nichts, sie hatte Angst. Sie trank, um zu vergessen. Sie hat sich dreißig Jahre lang prügeln lassen. Als mein Vater starb, war es eine wahre Erlösung für sie. Aber sie hat ihn nicht lange überlebt. Sechs Monate später ist sie selbst an Krebs gestorben. Ein richtiges Melodram.« Ihre Stimme hat einen sarkastischen und bitteren Klang. »Ich sehe immer noch meinen Vater, meinen würdevollen Vater vor mir – er war Arzt –, und meine Mutter und mich, blaß und unter unseren gutgeschnittenen Kleidern von blauen
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