Im Funkloch
geöffnet wurde.
Eine Frau kam rein. Sie war klein, trug ein blaues Kostüm, hatte lockiges Haar und eine schwarze Handtasche. Ihr Gesicht war hastig geschminkt und sie trug etwas zu viel vergoldeten Schmuck. Als sie die beiden Polizisten sah, stürzte sie zu ihnen. »Lucas – haben Sie etwas . . .«
Das war seine Mutter. Frau Reitz. Ich hatte sie vorher noch nie getroffen. Aber von Lucas' Beschreibungen (und Lästereien) hatte ich sie mir als Hausmütterchen vorgestellt, das nur in Grau herumlief und dauernd keifte.
»Frau Reitz?«, fragte der Polizist.
Sie nickte nachdrücklich.
»Wir wissen immer noch nicht, wo Lucas sich aufhält.« Mir fiel auf, dass der Polizist die Tatsache, dass von Lucas jede Spur fehlte, auf eine Weise ausdrückte, als sei er sicher noch am Leben.
Aber Frau Reitz' Gesichtsausdruck wurde zu einer Maske des Schreckens. Sie schluchzte so laut, dass es im letzten Winkel des Hauses zu hören sein musste.
Frau Herzig ging zu ihr und führte sie zum nächsten Stuhl. »Frau Reitz . . . bitte«, sagte sie und wies auf die Sitzfläche. Langsam setzte sich Lucas' Mutter hin, hielt noch immer ihre Handtasche mit beiden Händen umklammert, stellte sie auf den Oberschenkeln ab. Ich konnte sehen, wie ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie schüttelte den Kopf. »Warum hat er das getan? Ist hier etwas passiert?«, fragte sie und schaute in die Runde.
Passlewski nahm ihr gegenüber Platz und räusperte sich. »Lucas hat sich etwas . . . danebenbenommen. Und es kam da auch zu einem Vorfall . . .«
»Was für ein Vorfall?«
»Lucas hat einem anderen Jungen einen bösen Streich gespielt.« Ich hätte über diese Verniedlichung fast laut losgelacht.
Keuchend atmete Frau Reitz aus und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich noch mit ihm machen soll. Warum ist mein Kind so . . . unmöglich geworden? Wir haben ihm doch alles gegeben. Wir haben ihn unterstützt und gut erzogen.«
Wie diese Erziehung ausgesehen hat, hätte mich mal interessiert.
»Wir als Pädagogen sind genauso ratlos«, gestand Passlewski ein.
Frau Herzig warf ihm einen Blick zu, der Blitze zu schleudern schien.
»Was geschieht nun?«, fragte Lucas' Mutter.
»Unsere Fahndung ist im Gange«, erklärte der Polizist.
»Aber ihm könnte doch etwas zugestoßen sein. Ein Unfall. Irgendwo da draußen . . .« Ihre Stimme stockte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Jemand muss doch etwas wissen . . . mein Junge . . .« Sie schüttelte den Kopf, schaute sich um. Niemand rührte sich, niemand sagte etwas. Sie senkte den Kopf und weinte leise.
Frau Herzig ging neben ihr in die Knie, legte den Arm um Lucas' Mutter. »Ich bin sicher, Ihrem Sohn ist nichts passiert. Das ist schließlich nicht das erste Mal.«
Frau Reitz beruhigte sich ein wenig. »Aber er ist doch immer nur von zu Hause weggelaufen bisher, nicht irgendwo anders«, sagte sie, als würde das die anderen Gelegenheiten, als er durchgebrannt war, erklären.
»Bald werden wir etwas hören. Ich bin mir sicher. Wir haben das freie Zimmer im Dachgeschoss für Sie vorbereitet. Da können Sie sich ausruhen.«
Abwesend nickte Frau Reitz. Für mich sah eher Frau Herzig wie diejenige aus, die dringend Ruhe brauchte.
Unvermittelt schaute Frau Reitz auf. »Wer ist dieser Samuel?«
Mir stockte der Atem. Was hatte Lucas ihr erzählt? »Ich«, sagte ich tonlos.
Einige Sekunden lang musterte sie mich. »Lucas hat mir gesagt, dass du ihn zu dem Einbruch überredet hast, dass alles deine Idee war – und du hättest es so aussehen lassen, als wäre er an allem schuld.«
Mir blieb die Spucke weg. »Das ist doch Blödsinn«, sagte ich krächzend und bemerkte, wie die beiden Polizisten interessiert zuhörten.
Ich konnte das alles ganz einfach widerlegen – indem ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche zog. Dann würde Ulf bestätigen, dass Lucas ihn gezwungen hatte, den Schlüssel anzufertigen. Klar müsste ich dann zugeben, beim Einbruch mit dabei gewesen zu sein, aber Frau Reitz hätte sich endgültig von der Idee verabschieden müssen, dass ihr Sohn hier das Opfer war.
Fast hätte ich den Schlüssel hervorgeholt.
Aber in diesem Moment kippte Frau Herzig um.
Die Rückkehr
Der Arzt war innerhalb von fünf Minuten da. Zum Glück hatte das Telefon in diesem Augenblick funktioniert. Wir hatten Frau Herzig zu viert in ihr Bett getragen. Sie glühte regelrecht, hatte hohes Fieber, bekam ein Antibiotikum und musste ins Bett.
Noel und ich drückten unsere Finger auf die
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