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Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Titel: Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim al-Khalili
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und hatte ihre frühere Pracht wiedererlangt. Ein Historiker aus Bagdad berichtete, wie sein Vater ihn als kleines Kind über die Köpfe der Menschenmenge hob, welche die Straßen der Hauptstadt säumte, damit er den vorüberreitenden Kalifen sehen konnte; außerdem erinnerte er sich, wie man ihm sagte, er solle diesen Schicksalstag nie mehr vergessen.
    In der Stadt angekommen, gab al-Ma’mun seine Politik der Versöhnung zwischen Sunniten und Schiiten auf und setzte sehr schnell wieder die traditionelle schwarze Abassidenfahne ein. Aber seine Sympathie für die Bewegung der Mu’tazila war nur noch größer geworden. Aus ganzem Herzen schloss er sich ihrer rationalistischen Weltanschauung an, die sie aus den Arbeiten der griechischen Philosophen übernommen hatte; ebenso machte er sich ihre Vorstellungen von Indeterminismus und freiem Willen zu eigen, einen philosophischen Standpunkt, der erstaunlicherweise weitgehend mit dem modernen naturwissenschaftlichen Denken, das sich auf die heutigen Theorien der theoretischen Physik stützt, im Einklang steht.
    Unter al-Ma’muns Schirmherrschaft und in der von ihm geförderten Atmosphäre der Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber anderen Religionen und Kulturen zog es viele Gelehrte aus dem ganzen Reich nach Bagdad. Sie ließen sich von einem Gefühl des sprühenden Optimismus und der freien Entfaltung anlocken, in der sich beispielhaft die Stimmung dieses Goldenen Zeitalters widerspiegelte. Die Verschmelzung des griechischen Rationalismus mit der islamischen Mu’tazila führte zu einer humanistischen Bewegung, wie man sie in ähnlicher Form erst im 15. Jahrhundert in Italien wieder erleben sollte. Ihren besten Ausdruck findet diese Haltung in den Werken des berühmten Bagdader Gelehrten al-Jahiz (ca. 776 – ca. 869); dieser schrieb in seinem berühmten Buch der Tiere :
Unser Anteil an der Weisheit wäre stark vermindert, und unsere Mittel zum Erwerb von Wissen würden geschwächt, hätten die alten [Griechen] nicht für uns ihre wunderbare Weisheit und ihre vielfältigen Lebensweisen in Schriften festgehalten, die offenbart haben, was vor uns verborgen war, und uns eröffneten, was uns verschlossen war, so dass sie uns erlaubten, zu ihrer Fülle das wenige hinzuzufügen, das wir haben, und zu erreichen, was wir ohne sie nicht hätten erreichen können.
    Interessanterweise erstreckte sich dieser Geist der Toleranz gegenüber anderen Religionen nicht auf jene, die innerhalb des Islam selbst anderen Ideologien anhingen. In seinen späteren Lebensjahren zettelte al-Ma’mun eine kompromisslose Inquisition ( mihna ) gegen die islamischen Konservativen und Traditionalisten seiner Zeit an, die sich nicht dem Ethos der Mu’tazila anschließen wollten.
    Was al-Ma’mun selbst angeht, so wurde sein Interesse an der Wissenschaft bekanntermaßen geweckt, als sein Lehrer Ja’far ihm als kleinem Jungen die Liebe zu Gelehrsamkeit und Lernen vermittelte. Mit Sicherheit kannte er das großartige Erbe der alten Griechen und ihre Leidenschaft, ja geradezu ihre Versessenheit, die Welt um sie herum zu verstehen. Eine bestimmte Episode soll ihn aber so tiefgreifend bewegt haben, dass er sein Leben ein für alle Mal änderte. Kurz bevor er nach Bagdad zurückkehrte, hatte er einen lebhaften Traum. Der arabische Historiker, von dem wir nahezu alle unsere Informationen über diese wunderschöne, aber vermutlich (und traurigerweise) nicht verbürgte Geschichte beziehen, ist Ibn al-Nadim, der im 10. Jahrhundert das Fihrist ( Verzeichnis ) verfasste, einen geographischen Bericht über die Gelehrten von Bagdad einschließlich eines Kataloges aller Bücher, die in arabischer Sprache verfasst waren. Darin schrieb er:
Al-Mamun träumte, er habe einen Mann mit rötlichweißem Gesicht und hoher Stirn, buschigen Augenbrauen, kahlem Kopf, dunkelblauen Augen und hübschen Gesichtszügen gesehen, der auf einem Stuhl saß. Al-Ma’mun sagte: »In meinem Traum habe ich gesehen, dass ich, von Ehrfurcht erfüllt, vor ihm stand. Ich fragte: ›Wer bist du?‹, worauf er erwiderte: ›Ich bin Aristoteles.‹ Ich war entzückt darüber, bei ihm zu sein, und fragte: ›O Philosoph, darf ich dir einige Fragen stellen?‹ Darauf antwortete er: ›Frage nur.‹ Ich fragte: ›Was ist das Gute?‹ Er sagte: ›Das, was nach dem Verstand gut ist.‹ Ich fragte: ›Und was noch?‹ Darauf antwortete er: ›Was nach der Meinung der Massen gut ist.‹ Ich fragte: ›Und was noch?‹ Worauf er erwiderte: ›Noch ein

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