Im Herzen der Nacht - Roman
töten.
Keine Sekunde lang glaubte Talon, der Vetter würde die Schuld an der Ermordung des Onkels und der Tante tragen. Erst nachdem die Druiden ihn ebenso hingerichtet hatten wie seine Schwester, erfuhr er die Wahrheit. In der Nacht seiner Rache an dem Clan hatte sein Vetter alles gestanden und ihn angefleht, er möge ihn verschonen.
Aber Talon - jung, wütend und zutiefst verletzt - hatte sich an allen gerächt und danach seine Gefühle verbannt, sein Herz verhärtet.
Bis eine hinreißende Schönheit in einer nächtlichen Straße zu ihm aufgeblickt hatte, mit großen, braunen Augen, die ihn verzauberten. Er liebte sie, ihr Gelächter, ihren Humor. Nur ihr verdankte er, dass er neue Gefühle empfand. Mit ihrer Hilfe war er wieder ein ganzer Mann geworden.
Ohne sie wollte er nicht leben. Aber seinetwegen durfte sie nicht sterben. »Ich muss sie gehen lassen«, flüsterte er, und sein Entschluss stand fest.
Er hatte keine Wahl.
13
Zarek stand auf dem Fußgängerübergang bei der Jackson Brewery und spähte in die Wilkinson Street. Die Hände auf dem Eisengeländer, beobachtete er die Leute, die unter ihm die Decatur Street entlangwanderten, in Läden, Restaurants oder Bars ein und aus gingen. Acheron hatte ihm ausrichten lassen, er müsse bis zum Mardi Gras in seinem Haus bleiben. Wahrscheinlich sollte er darauf hören. Aber er wollte keine Befehle mehr befolgen.
Außerdem hatte ihn das raue Februarklima in Alaska lange genug an sein Domizil gefesselt, er hasste es, sich gefangen zu fühlen. Als er Fairbanks verlassen hatte, war es fünfundzwanzig Grad unter null. Jetzt herrschte in New Orleans eine Temperatur von zwölf Grad. Trotz des kühlen Winds fühlte er sich wie in einer milden Sommernacht.
Ende Juni und im Juli war es in Fairbanks manchmal richtig warm, etwa dreißig Grad. Aber wenn er nach Sonnenuntergang ins unheimliche Zwielicht trat, das sich niemals vollends verfinsterte, musste er sich verdammt glücklich schätzen, wenn er eine Nacht wie diese hier erlebte.
Und nach dem Sommer hielt er in Fairbanks nur ein paar Minuten im Freien aus, bis ihn der Sonnenaufgang wieder ins Haus trieb. Neunhundert Jahre lang war er in diese bittere Kälte verbannt worden. Jetzt durfte er endlich eine Erholungspause genießen.
Die Augen geschlossen, atmete er die milde, von Leben erfüllte Luft ein. Er nahm die Mischung aus Essensdüften und dem Geruch des Flusses wahr, hörte fröhliche Stimmen und Gelächter. Könnte er doch etwas länger hierbleiben, in dieser Stadt, wo es andere von seiner Art gab, wo die Leute mit ihm redeten... Aber er war daran gewöhnt, Dinge zu ersehnen, die er nicht bekam.
Zu seiner Rechten öffnete sich eine Tür, und ein kleiner Junge trat heraus, ein süßer Bengel mit kurzem braunem Haar, der herzzerreißend schluchzte. Bei Zareks Anblick hielt er abrupt inne. Der Dark Hunter ignorierte ihn.
»Helfen Sie mir, Mister?«, bat das Kind mit bebender Stimme. »Ich habe mich verirrt.«
Seufzend wandte er sich vom Geländer ab und steckte die linke Hand mit den Silberkrallen in seine Hosentasche. »Glaub mir, mein Junge, dieses Gefühl kenne ich.« Er reichte ihm die andere Hand und staunte, weil der Kleine so vertrauensselig war. Noch nie im Leben hatte er nach jemandem die Hand ausgestreckt, in der Gewissheit, man würde ihn nicht verletzen. »Wen suchen wir? Deine Mom oder deinen Dad?«
»Meine Mommy, die ist sehr hübsch.«
»Wie heißt sie?«
»Mommy.«
Sehr aufschlussreich. »Wie alt bist du?«
»Viel älter als vier Finger.« Der Junge hielt beide Hände hoch. »So alt?«
Unwillkürlich lächelte Zarek. »Komm«, sagte er und öffnete die Tür. »Da drin ist sicher jemand, der dir helfen wird, deine Mommy zu finden.«
Der Junge wischte sein Gesicht mit einem Jackenärmel ab, und Zarek führte ihn in die Brewery. Allzu weit waren sie
nicht gekommen, als er eine Frau schreien hörte: »Was machen Sie mit meinem Sohn?«
»Mommy!«, rief der Junge und lief zu ihr.
Sie packte das Kind, hob es hoch und warf Zarek einen argwöhnischen Blick zu, der ihm einen hastigen Rückzug empfahl. In manchen Nächten lohnte es sich nicht, eine düstere, unheimliche Rolle zu spielen.
»Hallo, Sicherheitsdienst!«, kreischte die Frau.
Fluchend stürmte er zur Tür hinaus und sprang über das Geländer auf die Stufen eine Etage tiefer. Dann tauchte er blitzschnell in der Menschenmenge unter. Zumindest glaubte er zu verschwinden, bis er der Wilkinson folgte und Acheron in den Schatten
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