Im Herzen der Nacht - Roman
ich erst vor kurzem begegnet«, sagte er achselzuckend. »Aber Acherons und meine Wege haben sich im Lauf der Jahrhunderte mehrmals gekreuzt.«
»Sind Sie auch unsterblich?«
»Nein, meine Rasse existiert nur viel länger als die Menschheit.«
»Wie lange?«
»Etwa ein Jahrtausend, ein Jahrhundert mehr oder weniger.«
»Wow! Ziemlich lange.« Sunshine konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, eine solche Zukunft zu planen. Eine innere Stimme sagte ihr, ein so langes Leben wäre eher ein
Fluch als ein Segen. Insbesondere, wenn man es allein verbringen musste. Sie beobachtete Vane, der die Passanten ringsum nicht aus den Augen ließ. Den grünen Augen schien nichts zu entgehen. »Warum reden Sie so freimütig über das alles, während Talon sich weigert, irgendwas zu erzählen?«
»Weil ich nicht zur Geheimhaltung verpflichtet wurde. Und ich nehme an, in den letzten Tagen haben Sie schon genug unheimliche Scheiße gesehen, sodass es das geringste Ihrer Probleme ist, ein bisschen was über mich zu erfahren. Übrigens - ich empfehle Ihnen, niemandem zu verraten, dass ich ein Wolf in menschlicher Gestalt bin.« Mit einem dämonischen Grinsen fügte er hinzu: »Sonst landen Sie in einer Gummizelle.«
Daran zweifelte sie keine Sekunde lang. Und es erklärte auch, warum er so offen und ehrlich über die Spezies sprach, der er angehörte. »Sind Sie tatsächlich ein Wolf?«
Vane nickte.
»Und wieso sehen Sie wie ein Mensch aus?«
»Unsere Rasse unterscheidet sich von der Menschheit. Vor etwa eintausend Jahren wurden wir erschaffen, als mein Urgroßvater beschloss, das Leben seiner Söhne zu retten, indem er ihre DNA auf magische Weise mit ein paar ausgewählten Tieren verband. Da wurden wir geboren. Ein Sohn entstammte zwei Halblut-Geschöpfen, einer hatte ein menschliches Herz, der andere ein tierisches. Ich stamme von der tierischen Kreatur ab.«
»Also schlägt in Ihrer Brust das Herz eines Wolfs?«
Wieder nickte er. »Außerdem besitze ich alle Moralbegriffe und den Selbsterhaltungstrieb eines Wolfs.«
»Wünschen Sie sich niemals, ein Mensch zu werden?«
»Nein. Warum sollte ich?«
Sie spürte, dass er irgendetwas vor ihr verbarg. In seinem Seelenleben gab es viel mehr, als er mitteilen wollte. Und er würde es wohl kaum schätzen, wenn sie ihm indiskrete Fragen stellte. Deshalb wechselte sie das Thema. »Tut es weh, wenn Sie Ihre Gestalt ändern? Ist es so wie in den Filmen, wenn Ihnen plötzlich überall Haare wachsen?«
»Keineswegs«, erwiderte er verächtlich. »Das ist eine typische Hollywood-Übertreibung. Da wir auf magische Weise entstanden sind, wenden wir unsere Fähigkeiten schmerzlos an. Die Verwandlung spüre ich genauso wenig wie Sie die Reise von Talons Hütte auf meinem Motorrad. Nur eine kleine elektrische Vibration. Sehr angenehm, wenn man’s richtig macht.«
»Sicher ist es wundervoll, wenn man solche Talente besitzt.« Sunshine legte den Kopf schief, kniff die Augen zusammen und musterte ihn.
»Was tun Sie?«
»Ich versuche mir vorzustellen, wie Sie als Wolf aussehen.«
»Hoffen Sie, dass Sie das niemals herausfinden.«
Automatisch wich sie einen Schritt zurück. »Ich glaube, es macht Ihnen richtig Spaß, andere Leute zu erschrecken.«
»Manchmal.«
Da sie das Thema nicht weiter erörtern wollte, beschloss sie, schweigend auf Cameron zu warten. Unglücklicherweise tauchte er nicht auf. Vane schlug ihr vor, in Talons Hütte zurückzukehren.
Aber sie weigerte sich. »Vielleicht hat er sich nur verspätet. Oder etwas ist ihm dazwischengekommen. Ein bisschen muss ich noch warten.«
Vane stieß ein leises, eindeutig wölfisches Knurren aus und
setzte sich hinter ihren Kiosk, an den schmiedeeisernen Zaun gelehnt. Seufzend begann sie wieder zu zeichnen. Zwischendurch verkaufte sie ein paar Keramiksachen. Der Nachmittag verstrich, nichts geschah, und Cameron ließ sich nicht blicken.
Um vier Uhr ging Selena Pause machen. Jetzt saß Vane am Straßenrand, die langen Beine ausgestreckt, die Fußknöchel gekreuzt, auf seine Ellbogen gestützt. In dieser Position umspannte das T-Shirt besonders reizvoll seine muskulöse Brust. »Machen Sie das jeden Tag?«, fragte er.
»Meistens.«
»O Mann, ist das langweilig! Was tun Sie, um nicht durchzudrehen?«
»Normalerweise zeichne oder male ich. Dabei vergeht der Tag wie im Flug. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, ist’s an der Zeit, nach Hause zu fahren.«
»Das begreife ich nicht.«
»Das versteht niemand, der kein Künstler
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