Im Herzen der Nacht - Roman
wie eine richtige Berührung an. Aber die Geste ließ seine Haut prickeln. »Tut es weh?«
»Nein, es geht mir gut.«
»Bitte, Speirr«, sprach sie seinen Namen in der keltischen Muttersprache aus. »Sei ehrlich zu mir, bràthair .«
Talon hob eine Hand, um eine blonde Haarsträhne aus ihrer Stirn zu streichen. Doch dann entsann er sich, dass er sie nicht berühren konnte. Mit geschlossenen Augen dachte er an die Vergangenheit. Wenige Tage vor ihrem sechzehnten Geburtstag hatten die Clanbrüder seine Schwester getötet. » Wenn wir sie den Göttern opfern, werden sie die Sünden unseres Anführers verzeihen...«
Mit zusammengebissenen Zähnen bekämpfte Talon die Trauer und die Gewissensqualen, die in ihm aufstiegen. Er trug die Schuld an Cearas Tod. Als hätte er eigenhändig das Messer in ihr Herz gestoßen.
Entschlossen verdrängte er solche Gedanken und suchte Zuflucht in der emotionslosen Kälte, die er brauchte, um zu funktionieren.
Ich bin kein Mensch mehr. Und es gibt keine Vergangenheit. Tag für Tag ging ihm Acherons Litanei durch den Sinn und half ihm, alles andere zu verdrängen. Nur die Gegenwart und die Zukunft existierten. Sein menschliches Dasein lag hinter ihm. Jetzt war er ein Dark Hunter und verpflichtet, das Böse zu vernichten, die Menschen davor zu schützen, die nicht ahnten, was ihnen in der Finsternis auflauerte. »Mein Bein...«, im Gegensatz zu seinem Herzen, »...bereitet mir kaum noch Beschwerden.«
Beunruhigt schüttelte sie den Kopf. »Hier bist du nicht sicher, Speirr. Zu viel Licht, das macht mir Sorgen.«
»Ja, ich weiß. Keine Bange, diesen Ort werde ich so bald wie möglich verlassen.«
»Dann gehe ich wieder, es sei denn, du brauchst mich.«
Sie verschwand, und er blieb allein zurück. Wieder einmal. Sein Blick fiel auf die Theke, wo Sunshine vorhin gesessen hatte. Zu seiner Verblüffung entdeckte er einen Skizzenblock und griff danach. Beeindruckt sah er, wie gut sie ihn getroffen hatte. Was für eine brillante Künstlerin. Offenbar besaß sie das Talent, Emotionen und Bedeutungen in schlichten Linien auszudrücken. So etwas hatte er noch nie gesehen. Zu seinem Bedauern durfte er die Zeichnung nicht hier zurücklassen. Er riss das Blatt vom Block und nutzte seine Kräfte, um es zu verbrennen. Allen Dark Huntern war es streng verboten, sich in dieser oder jener Form porträtieren zu lassen. Sie brauchten keine Beweise für ihre Unsterblichkeit. Solche Ebenbilder würden nur zu unerwünschten Fragen und Komplikationen führen.
Hoffentlich würde Sunshine keine neue Skizze zeichnen, wenn er fortgegangen war. Er schaute sich im Loft um und fand mehrere gerahmte und ungerahmte Kunstwerke am Boden, auf einem langen Zeichentisch und drei Staffeleien. Überall fand er halb fertige Projekte, er durchquerte den Raum, um sie genauer zu betrachten. Dabei merkte er nicht, wie die Zeit verging. Auch im Schlafbereich lehnten einige Gemälde an der Wand. Sunshine bevorzugte lebhafte Farben, und ihre Pinselstriche auf den Leinwänden wirkten so sanft und heiter wie sie selbst.
Aber es war die Keramik, die ihn am meisten faszinierte - eine feurige Mixtur aus intensiven Farben, weit entfernt von modernen Formen. Sie musste die griechische und die keltische Kultur sehr gründlich studiert haben, um so authentische Kopien zu reproduzieren. Bemerkenswert... Hätte er es nicht besser gewusst, wäre er zu der Überzeugung gelangt, ein Werwolf-Hunter hätte die Gegenstände aus alten Zeiten in die Gegenwart gebracht.
Als er ein Klopfen hörte, stellte er die Schüssel, die er gerade begutachtete, in ein Regal zurück und öffnete die Tür. Bei seinem Anblick schnappten Kyrian und Julian nach Luft. Hastig schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu.
Kyrian schrie vor Lachen, und Talon stöhnte.
»Komm schon, Tally!«, rief Kyrian spöttisch. »Brauchst du deine Kleider und deine Schlüssel? Wie wär’s mit ein bisschen Würde?«
Da riss Talon die Tür auf, packte Kyrian am Hemd und zerrte ihn in den Loft. »Was für ein Arschloch du bist!«
Kyrian lachte noch lauter, und Julian Alexander schlenderte herein, offensichtlich bemüht, seinen Lachreiz zu unterdrücken. Das wusste Talon zu schätzen.
So gutmütig war Kyrian nicht. »Hübsche Knie, Kumpel. Und auf diese behaarten Beine wäre jedes Wildschwein stolz.«
»Halt den Mund!« Talon entwand ihm einen großen Beutel und zog seine Lederhose heraus. »Danke, Julian, dass du dich wie ein Erwachsener benimmst und mich nicht
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