Im Herzen der Wildnis - Roman
hatte, war zu Tränen gerührt gewesen, als Shannon sie bat, sie bei ihrem nächsten Besuch auf Alcatraz zu begleiten. Ihr Vater wahrte nur den Anstand, als er sie nicht sofort wieder hinauskomplimentierte. Und sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Aidan hatte Claire entehrt, aber eine Heirat machte weder für die Tyrells noch für die Sassons einen Sinn, geschweige denn für Claire und Aidan.
Hinter dem Jachthafen bog sie in die Fillmore Street ab und eine halbe Meile weiter in die Lombard Street. Vor ihr erhob sich der Russian Hill. Immer wieder warf sie einen Blick auf die Hausnummern an den viktorianischen Häuschen. Das beschriebene Haus lag am steilsten Teil der Lombard Street und bot einen fantastischen Blick auf den Telegraph Hill und die Bay, über der die Lichter von Oakland glitzerten.
Die Lombard Street war so abschüssig, dass sie im Schritttempo hinunterfuhr. Auf halber Höhe stand ein Haus mit einer Kaskade purpurner Bougainvilleablüten zwischen den dunklen Fensterläden – zwei Fenster unten, von einem flackernden Kaminfeuer erhellt, drei Fenster oben, offenbar von Kerzen erleuchtet. Einige Schritte weiter parkte der schwarze Duryea mit Jays Initialen auf dem Nummernschild: JB. Skip, der vorhin in Shannons Zimmer gekommen war, um sie auszufragen, hatte sofort das Einwohnerverzeichnis aus dem Telefonzimmer geholt und nachgeschlagen. Aber unter B gab es unzählige Js. Und es war ihr völlig egal, ob er nun John Balfour aus Pacific Heights oder Jake Byrne aus Richmond oder Jared Bryce vom Nob Hill war.
Sie stellte ihren Duryea neben seinen, nahm ihre Tasche vom Sitz, stieg aus und erklomm die steilen Stufen.
Jay öffnete die Tür, bevor sie klopfen konnte, schloss sie ungestüm in die Arme und küsste sie. »Hey.«
»Hey.«
Er nahm ihre Hand und führte sie ins Wohnzimmer, die behagliche Bärenhöhle eines Junggesellen: ein Kamin, in dem die Holzscheite prasselten, ein Bücherregal, ein gemütliches Ledersofa, ein Sessel neben dem Grammofon und eine einzige Schellackplatte – wo waren die anderen?
»Was willst du trinken?«, fragte Jay, während sie die Plattenhülle betrachtete.
Les Préludes von Franz Liszt. Sie stellte die Platte wieder auf den Boden neben dem Tischchen. »Was nimmst du?«
»Einen fünfzehn Jahre alten schottischen Whiskey.« Er zeigte ihr das Etikett der Flasche. »Stimmt gar nicht, hier steht: 1882. Der ist schon achtzehn Jahre alt, der muss weg, bevor er schlecht wird.« Er grinste, und seine Augen funkelten.
»Gieß mir auch einen ein, ohne alles.«
Während Jay den Laphroaig öffnete, warf sie einen Blick ins Bücherregal. Sie zog Leo Tolstois Anna Karenina heraus und zeigte es Jay. »Hast du’s gelesen?«
Er wandte sich zu ihr um. »Ja.«
Als sie den Roman zurückschob, entdeckte sie Jane Austens Stolz und Vorurteil. Sie schlug den zerlesenen Roman auf und strich mit den Fingern über die erste Seite, die unter der Berührung leise knackte. Das Buch war nass geworden. Aber sie erkannte den zerschlissenen Einband wieder, und auch die verknickte Ecke, die ihr als Lesezeichen gedient hatte, war noch da. Mit klopfendem Herzen blätterte sie weiter. Sie hatte dieses Buch vor Jahren gelesen, es war ihres. Wie seltsam, es im Regal eines Fremden wiederzufinden! Sie drehte sich um. »Und das hier?«
Jay legte den Kopfschief, um den Titel auf dem Buchrücken zu entziffern. »Das auch.«
»Mochtest du’s?«
»Ja, sehr.«
Sie wollte das Buch schon zuklappen und zurückstellen, als sie auf der Innenseite des Einbandes einen Namen las.
Ian Starling. Fort Yukon. Und darunter, die aufgeweichte Tinte kaum noch lesbar: Nach harten Verhandlungen eingetauscht gegen ein erlegtes Karibu, zehn gefrorene Lachse, ein Pfund Mehl, ein Pfund Zucker, ein Päckchen Kaffee, acht Zigaretten und ein National Geographic. Goldstaub wollte er nicht haben. Birch Creek, Arctic Circle, 23. Dezember 1898.
Shannon wusste, wer er war: ihr Bruder Colin. Und den Namen Ian Starling kannte sie auch. Er hatte ihr seine Visitenkarte gegeben. Er wollte sie retten, falls sie auf dem Weg zum Palace Hotel verloren ging. Jetzt erinnerte sie sich: Ian Starling war Assistant Vice President der Brandon Corporation. Das Haus gehörte also ihm. Aber wo war Ian? In Alaska. Daher das geplünderte Bücherregal und das Grammofon ohne Platten. Und deshalb hatte Jay eine Stunde benötigt, um den Schlüssel zu holen und aufzuräumen.
Nachdenklich schloss sie das Buch und stellte es zurück. Jay drückte ihr den
Weitere Kostenlose Bücher