Im Himmel mit Ben: Roman (German Edition)
drei Uhr morgens. Heute ist Bens Todestag. Mir ist schlecht, ich bin hundemüde, kann aber nicht einschlafen. Ich wünschte mir, ich hätte niemals von Bens Verlobung erfahren. Jetzt habe ich nicht nur tagsüber Nathalies Bild im Kopf, ich träume auch noch nachts von ihr. Und dann auch noch so ein derartig komisches Zeug. Im Traum haben Nathalie und ich uns verhalten, als seien wir ein eingespieltes altes Ehepaar, das auch ohne Worte miteinander kommuniziert. Wir schienen richtig glücklich und zufrieden zu sein und wirkten sehr vertraut miteinander.
Aber was war mit dem Spiegelbild? Und wo kam der Spiegel eigentlich her?
Meine Oma sagte immer, Träume wären eine Reise in die eigene Seele. Würde man träumen, würde das Unterbewusstsein einem etwas mitteilen wollen. Meine Großmutter ist vor zweieinhalb Jahren gestorben. Sie ist ganz friedlich in ihrem eigenen Bett bei sich zu Hause eingeschlafen. Meinen Großvater habe ich nie kennengelernt, da er schon im Krieg gestorben ist. Meine Mutter ist ohne Vater aufgewachsen, da Oma auch nie wieder geheiratet hat. Sie schwärmte auch im hohen Alter noch von meinem Opa, der sie mit einem einzigen Blick dahinschmelzen lassen konnte. Dafür habe ich meine Oma immer bewundert. Sie ist sich und der Liebe ihres Lebens immer treu geblieben.
Zu meinen anderen Großeltern, väterlicherseits, habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr. Es kam damals zu einem großen Zerwürfnis zwischen uns, weil meine Mutter meinem Vater den Fehltritt nicht verzeihen konnte. Letztendlich haben seine Eltern meiner Mutter dann die Schuld für die Scheidung gegeben. In einer Ehe hält man schließlich zusammen – in guten, wie auch in schlechten Zeiten, meinte die andere Großmutter damals. Als ich wagte zu erwähnen, dass es unfair sei, dass mein Vater sich die guten ausgesucht habe und uns dafür die schlechten ließ, warf sie mir unverschämtes Verhalten vor. Wir hatten schon vorher nicht viel Kontakt zu den beiden, da sie in Karlsruhe lebten. Heute beschränkt er sich auf eine Karte zu Weihnachten und zum Geburtstag oder einen Gruß, den mein Vater mir ab und an ausrichtet – allzu häufig bekomme ich ihn selbst nicht zu Gesicht. Kurz nach der Trennung hat mein Vater sich noch bemüht, den Kontakt zu mir aufrechtzuerhalten. Aber damals war ich viel zu wütend, um ihm auch nur annähernd eine Chance zu geben. Ich habe ihn jedes Mal abblitzen lassen, wenn er etwas mit mir unternehmen wollte. Ins Kino bin ich lieber mit meinen Freunden gegangen. Unterhalten wollte ich mich mit ihm auch nicht, geschweige denn eine seiner Freundinnen kennenlernen, die im Lauf des ersten Jahres häufig wechselten. Schließlich hat mein Vater aufgegeben. Er hat mir gesagt, dass ich mich melden soll, wenn ich ihn sehen möchte. Ich habe es damals als fehlendes Interesse gedeutet und mich ganz zurückgezogen. Heute sehe ich die Sache ein wenig anders. Ich bemühe mich, den Kontakt zu ihm zu halten. Aber eine innige Verbindung ist zwischen uns nicht mehr entstanden.
Zu meiner Düsseldorfer Oma hatte ich bis zum Schluss ein sehr gutes Verhältnis. Meine Mutter hat oft zu mir gesagt, ich wäre ihr sehr ähnlich. Vielleicht haben wir uns deswegen so gut verstanden. Sie musste nie fragen, wie es mir geht, sondern hat es mir an der Nasenspitze angesehen, wie sie immer so schön sagte. Ich liebte ihre ruhige, ausgeglichene Art und ihre weisen Kommentare. Ich denke noch oft an meine Oma. Sie konnte auch Ben gut leiden. Jedes Mal, wenn wir bei ihr waren, hat sie irgendwelche Andeutungen gemacht und uns gefragt, ob wir denn nun endlich ein Paar wären. Einmal hat sie mich sogar gefragt, ob wir schon in die Kiste gehopst wären – und zwar so laut, dass Ben es hören konnte. Meine Oma fehlt mir, genau wie Ben.
Unglücklich rolle ich mich zur Seite und schließe die Augen. Langsam wird mein Körper wieder schwerer, ich schlafe fast ein, da sehe ich plötzlich wieder den Spiegel aus meinem Traum vor mir. Diesmal ist er die einzige Ausstattung in einem ansonsten ganz leeren großen Zimmer. Der Boden ist mit einem dicken, roten Teppich ausgelegt. Neugierig gehe ich näher, damit ich mir die schönen Schnitzereien genauer ansehen kann. Es sind unendlich viele Gesichter mit ganz unterschiedlichen Physiognomien, die sehr detailgetreu aus dem Holz herausgearbeitet sind. Fasziniert fahre ich mit dem Finger die filigranen Linien entlang. Als mein Blick in den Spiegel fällt und Nathalies Bild zurückwirft, zucke ich erschreckt zusammen.
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