Im Himmel mit Ben: Roman (German Edition)
In der Erwartung Bens Verlobte hinter mir zu entdecken, drehe ich mich um. Aber es ist der graue Kater, der genau in diesem Moment durch den Raum stolziert und sich vor dem Spiegel zu meinen Füßen niederlässt.
Wenn sich jetzt Ben darin spiegelt, drehe ich durch, denke ich. Aber er ist es nicht. Ein mir unbekannter Mann lächelt mich aus dem Spiegel heraus verlegen an. Er ist groß, trägt Jeans und ein schwarzes Hemd. Sein Haar ist dunkel und an den Seiten mit grauen Fäden durchzogen. Mit braunen Augen zwinkert er mir zu. Verunsichert werfe ich einen Blick auf Caruso, dann wieder in den Spiegel. Der Mann verschwindet in dem Augenblick, als der Kater sich in Bewegung setzt und auf die Fensterbank springt.
»Warte!«, rufe ich. »Wo willst du denn hin?« Caruso springt mit einem Satz in den Garten, und als ich zum Fenster eile, sehe ich ihn schon im Gebüsch verschwinden. Unentschlossen bleibe ich noch einen Moment am offenen Fenster stehen, bis ich merke, dass ich friere.
Wir haben den 13. Mai. Vor genau einem Jahr ist Ben gestorben. Und ich stehe tatsächlich mitten in der Nacht in meiner Küche, weil ich anscheinend schlafwandle und völlig verrückte Sachen träume.
Das reicht! Ich schüttle entschlossen den Kopf und gehe in mein Arbeitszimmer. Ich knipse die Schreibtischlampe an und fahre den Computer hoch, dann gebe ich Traumdeutung und Spiegel in die Suchmaschine ein. Ich bin hellwach. Aufmerksam lese ich auf mehreren Seiten Erklärungen dazu durch. So in etwa sagen sie alle das Gleiche. Ich weiß jetzt, dass ein Spiegel im Traum, genau wie im Märchen, eine magische Bedeutung hat. In der Realität zeigt uns ein Spiegel unser Gesicht. Im Traum enthüllt uns der Spiegel allerdings unsere Seele. Der in den Spiegel schauende Träumer sieht sich sozusagen seitenverkehrt und kann damit wieder zu sich selbst zurückfinden.
Na toll, denke ich. Normale Leute sehen also ihre Seele, wenn sie im Traum in einen Spiegel schauen. Aber ich erblicke die Verlobte meines besten Freundes, den ich auch geliebt habe. Und es erscheint auch noch irgendein Kerl, mit dem ich wirklich gar nichts anfangen kann. Ich bin mir sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen habe, auch nicht in einem Film.
Ich wache auf, weil es wie verrückt bei mir an der Tür klingelt. Mich überfällt ein Schwindel, als ich vom Schreibtisch aufspringe. Bin ich doch tatsächlich über der Tastatur eingeschlafen! Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir gerade mal halb neun haben. Um diese Zeit kommen normalerweise nur Rici oder meine Mutter auf die Idee, unangemeldet bei mir hereinzuschneien. Und auch die müssten eigentlich wissen, dass normale, nicht arbeitende Menschen um diese Uhrzeit noch schlafen. Genervt reiße ich die Tür auf.
»Gehört der graue Kater Ihnen?« Vor mir steht ein groß gewachsener Mann mit blondem Haar und schaut mich vorwurfsvoll an.
»Meinen Sie Caruso?«, frage ich automatisch, obwohl er definitiv nicht zu mir gehört. Außerdem ist er ja wieder bei Nathalie.
»Wie auch immer er heißt, können Sie Ihren Kater bitte nicht auf die Straße lassen, wenn ich mit meinem Hund morgens unterwegs bin? Jeden Tag liegt er unter einem Auto und wartet darauf, dass wir vorbeikommen. Und dann schießt er wie eine Furie mit spitzen Krallen auf meinen Hund los. Ich bin auch schon auf der anderen Straßenseite gegangen, aber das bringt nix. Irgendwie scheint das gerissene Kerlchen immer zu ahnen, wo wir langgehen werden – und zack, kommt er angeschossen. Er ist geradezu besessen von meinem Hund. Die arme Tilda ist schon ganz verstört.«
Ich verstehe nur Bahnhof. Und zu allem Überfluss wird mir schon wieder übel.
»Entschuldigung«, nuschele ich, schmeiße die Tür zu und sprinte zum Bad, in dem sich das rettende Klo befindet. Endlich kann ich mich von den undankbaren Cocktails des vergangenen Abends befreien. Danach gurgele ich ausgiebig mit einer Mundspülung und werfe einen Blick in den Spiegel. »Scheiße!« Das bin eindeutig ich – und ich sehe gar nicht gut aus. Trotzdem fühle ich mich besser, seitdem das Teufelszeug endlich aus mir raus ist.
»Sind Sie noch da?«, rufe ich in den Hausflur.
Keine Antwort. Mein Arbeitszimmer liegt nach vorne raus, zur Straßenseite. Schnell laufe ich zum Fenster und werfe einen Blick nach draußen. Vor dem Haus steht prompt noch der Typ, der eben noch bei mir wegen Caruso die Welle gemacht hat, und bindet seinen Hund von der Gartenpforte los. Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte eine
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