Im Innern des Wals
einem Sixpence zu zahlen. Gegen Morgen bekommen sie nicht einmal ein Sixpence, sondern nur eine Tasse Tee oder eine Zigarette. Um vier Uhr ergatterte jemand ein großes Bündel Zeitungspapier und Plakate, und sechs oder acht von uns setzten sich auf eine Bank und packten sich in ungeheure Mengen Papier ein, was uns ziemlich warm hielt, bis Stewart’s Café in St. Martin’s-Lane aufmachte. Bei Stewart’s kann man bei einer Tasse Tee von fünf bis neun sitzen bleiben (manchmal teilen sich drei oder vier in eine Tasse), und man darf mit dem Kopf auf dem Tisch bis sieben Uhr schlafen. Dann weckt einen der Besitzer. Man findet da eine sehr gemischte Gesellschaft, Landstreicher, Lastträger von Covent Garden, oder Leute, die frühmorgens arbeiten müssen, Prostituierte, und es kommt unausgesetzt zu Zank und Streitereien. Diesmal beschimpfte eine alte, sehr häßliche Frau – Ehefrau eines Lastträgers – zwei Prostituierte, weil sie sich ein besseres Frühstück leisten konnten als sie. Jedesmal, wenn ihnen etwas Neues serviert wurde, zeigte sie mit dem Finger drauf und schrie:
»Da geht das Geld drauf für noch einen Fick. Wir kriegen keine Kippers (warme Räucherheringe) zum Frühstück, oder stimmt’s nicht, Kinder?! Was glaubt ihr, woher das Geld für die Pfannkuchen stammt? Das war der Neger, der sie für einen Zehner gehabt hat.« etc. etc. Aber die beiden Dirnen kümmerten sich nicht weiter um sie.
27. August
Etwa um acht Uhr früh rasierten sich die meisten von uns am Trafalgar Square Brunnen. Ich verbrachte den ganzen Tag mit der Lektüre von Eugenie Grandet (von Balzac) –, dem einzigen Buch, das ich mir mitgenommen hatte. Beim Anblick des französischen Buches fielen die üblichen Bemerkungen: »Aha, französisch, ziemlich heiße Sache, wie?« Offenbar können sich die meisten Engländer nicht vorstellen, daß es französische Bücher gibt, die nicht pornographisch sind. Viele Vagabunden scheinen nichts anderes zu lesen als Hefte vom Typ Buffalo Bill. Jeder Landstreicher hat eins bei sich, und wenn sie sich abends in ihrem Quartier treffen, tauschen sie sie untereinander aus, nach Art von Leihbüchereien.
In der Nacht, bevor wir früh nach Kent aufbrachen, entschloß ich mich, in einem Bett zu schlafen, und ging zu einer Unterkunft in der Southwark Bridge Road. Das ist dort eine Art Sevenpence-Schlafstelle, eine der wenigen, die es noch in London gibt, und danach ist sie auch. Die Betten sind fünf Fuß lang, ohne Kissen (man legt sich sein zusammengerolltes Jackett unter den Kopf), und voller Flöhe, neben einigen Wanzen. Die Küche ist ein kleiner, stinkender Kellerraum, in dem ein Mann an einem Tisch sitzt und Marmeladenschnitten verkauft, die voller Fliegen sind, alles ein paar Schritte von der Aborttür entfernt. Die Ratten sind eine solche Plage, daß sie mehrere Katzen halten müssen, ausschließlich ihretwegen. Die Schläfer waren Dockarbeiter, soviel ich weiß, gar keine üblen Burschen. Ein jüngerer war darunter, blaß und schwindsüchtig aussehend, aber offenbar ein Arbeiter, der für Gedichte schwärmte. Er wiederholte zum Beispiel immer wieder:
A voice so thrilling ne’er was heard
In April from the cuckoo bird,
Breaking the silence of the seas
Beyond the farthest Hebrides.
[Ein so durchdringender Ruf ist noch nie im April vom Kuckuck gehört worden, er bricht das Schweigen des Meeres bis über die fernsten Hebriden hinaus.]
Er trug es mit echtem Gefühl vor. Er wurde kaum ausgelacht.
28. August
Am Nachmittag des nächsten Tages setzten sich vier von uns zu den Hopfenfeldern in Marsch. Der interessanteste von ihnen war ein junger Mann namens Ginger, der in dem Augenblick, wo ich dieses niederschreibe, noch immer mit mir befreundet ist. Es ist ein starker, athletischer Bursche, sechsundzwanzig Jahre alt, beinahe Analphabet und grenzenlos dumm, aber von geradezu tollkühner Verwegenheit. Vermutlich hat er jeden Tag während der letzten Jahre etwas Gesetzwidriges begangen, wenn er nicht im Gefängnis saß. Als Junge hat er drei Jahre im Borstal gesessen, kam heraus, heiratete mit achtzehn auf Grund eines erfolgreichen Einbruchs, und trat bald darauf als Artillerist in die Armee ein. Seine Frau starb, kurze Zeit später erlitt er durch einen Unfall eine Verletzung am linken Auge und wurde als Invalide aus der Armee entlassen. Man bot ihm eine Rente oder eine einmalige Abfindung an, und natürlich wählte er die Abfindung, um sie innerhalb einer Woche zu verjubeln. Danach wandte er
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