Im Land der gefiederten Schlange
Stattdessen hätte ich dieses Mädchen auf der ganzen Welt suchen müssen und mich nur um eines scheren: um das, was sie mit mir tut und ich mit ihr.«
Ich auch, dachte Stefan. Ich hätte meiner Liebe um die ganze Welt folgen müssen und mich um nichts scheren als um das, was wir füreinander tun. Das Leben umarmen. Nicht es irgendwann nicht mehr ertragen wie August Messerschmidt. Er hätte dem Mann unendlich gern die Hand gegeben, er hätte unendlich gern zu ihm gesagt: Mir tut das Herz weh um Sie. Und der Schmerz, der Sie zerreißt, zerreißt auch mich.
»Wenn Sie Herrn Temperley sprechen, grüßen Sie ihn bitte von mir.« Benito Alvarez ging zwei Schritte in Richtung Tür und wandte sich Martina zu. »Auch wenn du mir bitterböse bist – darf ich Inez zu dir bringen, und kannst du sie bei dir behalten? Als ich heute Morgen aufbrechen wollte, stand sie in der Box meines Pferdes – weiß Gott, wie sie den Weg bewältigt hat. Sie will um jeden Preis in der Stadt bleiben, stößt wüste Drohungen aus, und wenn ich ihr nicht helfe, habe ich Angst um meine Familie in Querétaro.«
»Das musst du doch nicht fragen.« Martina strömten ebenfalls Tränen über das Gesicht. »Bring sie her, wir kümmern uns um sie. Und ich bin dir auch nicht bitterböse, Dummkopf. Bitte erlaube niemandem, dich totzuschießen.« Sie warf einen Blick auf das Bild von Quetzalcoatl, dann lief sie zu Benito und zeichnete auf seine Stirn ein Kreuz. »Musst du wirklich heute noch nach Michoacán? Ich will, dass du hierbleibst und mit Katharina sprichst. Dass du sie uns zurückholst und den Säbelrassler zum Teufel schickst.«
»Aber Katharina will das nicht«, sagte er, nahm ihre Hand, küsste die Luft darüber und ging.
Stefan wünschte, er hätte ihm bis an die Treppe nachlaufen dürfen, um zuzusehen, wie ein Mann das machte: die schwerste Niederlage seines Lebens einzugestehen und mit so viel Würde seines Weges zu gehen.
43
»Tun wir’s noch einmal? Nur noch einmal, ich bitte dich, die Allee hinunter bis zum Brunnen im Galopp?«
Katharina schmerzte das Hinterteil. Das aber hätte sie Valentin nie eingestanden, schon gar nicht, wenn er sie so eindringlich bat und sie dabei mit vor Seligkeit glänzenden Augen ansah wie ein kleiner Junge. Wie hätte sie es ihm abschlagen können? Vor einer Stunde, als sie aufgebrochen waren, war sein Gesicht grau vor Sorge gewesen, und Katharina fand es unerträglich, mit anzusehen, wie er sich quälte. Sie hätte ihm alles Leid von der Stirn streichen, allen Kummer aus den Augen küssen wollen.
Stattdessen hatte der wilde Ritt durch die Alameda Valentins jugendlichen Übermut wiederhergestellt. Voll Verlangen strahlte er sie an, bis sie mit einem Lachen nickte und er schon seinem Pferd die Sporen gab und nahezu aus dem Stand wieder angaloppierte. Seufzend setzte Katharina sich im Sattel zurecht und gab dem lammfrommen Wallach die Zügel frei. Das Tier hatte Valentin eigens für ihre Reitanfänge ausgewählt – es wusste genau, was von ihm verlangt wurde, setzte sich erst in Trab und dann in Galopp und folgte dem Gefährten.
Als Valentin ihr zu Beginn des Sommers vorgeschlagen hatte, gemeinsam auszureiten, hatte sie zuerst nicht geglaubt, dass er es ernst meinte. »Aber Frauen reiten doch nicht aus!«, hatte sie gerufen. Die begüterten Herren, die auf den breiten Pfaden der Alameda ihre Pferde bewegten, gehörten zum Bild der Stadt, aber die Damen fuhren in ihren Equipagen oder flanierten zu Fuß.
»Europäische Damen tun es«, hatte Valentin widersprochen. »Sogar die Kaiserin.« Dem wusste sie nichts entgegenzuhalten. Anfangs war sie sich in ihrem Damensattel deplaziert vorgekommen, inzwischen aber wimmelte es im Park von reitenden Damen, die Charlotte von Habsburgs Vorbild folgten.
Unter den tief hängenden Zweigen der Pfefferbäume sprengten sie auf den Brunnen zu. Die Novembersonne, die nicht mehr brannte, sondern streichelte, fiel zwischen den gefiederten Blättern hindurch, und in der Luft lag der Duft der beginnenden Blüte. Valentin zügelte seinen Goldfuchs, damit er auf gleicher Höhe mit ihrem Braunen lief. Es fiel ihm nicht leicht, denn Geschwindigkeit berauschte ihn, doch er tat es für sie. In seiner Heimat, so hatte er ihr erzählt, hatte er ein ebenso schnelles goldenes Pferd besessen und hatte alles darangesetzt, hier ein ähnliches zu finden. Das Tier musste ein mittleres Vermögen gekostet haben.
Ein Vermögen kosteten auch die Kleider, die er ihr fortwährend schenkte.
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