Im Land der Orangenbluten
kleines Stück davon erhielt. Die Kinder wuselten durch das ganze Dorf und durch jede Hütte. Selbst zum Schlafen kuschelten sie sich ein, wo es ihnen gerade gefiel. War eines der kleinen Kinder hungrig, fand sich immer eine Brust, weinte eines der Kinder, gab es immer eine tröstende Hand. Für Erika war es zunächst etwas befremdlich, doch sie gewöhnte sich schnell an den lockeren und liebevollen Umgang, den die Menschen hier miteinander pflegten.
Mehr Probleme bereitete ihr die Zubereitung der Nahrung. Die Männer brachten von ihren Streifzügen oft nur Früchte und Fisch mit, seltener größeres Wild. Wenn sie aber ein Tier erlegten, dann wäre es unhöflich gewesen, den ihr gereichten Anteil der Jagdbeute abzuweisen, auch wenn Erika keine Ahnung hatte, wie sie die Eidechsen oder Affen zubereiten sollte. Auch mit dem Faultier- oder dem Tapirfleisch wusste sie nichts anzufangen. Abgesehen davon hatte sie keine eigene Kochstelle. Sie gab daher alles an Jaminala weiter, in deren Hütte sie nach wie vor untergebracht war. Jaminala bereitete daraus scharfe Suppen und Eintöpfe oder garte das Fleisch im Feuer, um es dann anstandslos wieder mit Erika und Reiner zu teilen. Saßen die Frauen beieinander, beobachtete Erika erstaunt, wie sie ständig Stücke eines ausgebackenen Brotes in den Mund nahmen und unermüdlich darauf herumkauten, um es anschließend in eine große Kalebasse zu spucken.
Eines Tages konnte Erika ihre Neugier nicht mehr zügeln und fragte Jaminala, was es damit auf sich hatte. Diese hielt ihr nur grinsend den Krug, in dem sich der scharfe Schnaps befand, vor die Nase. Zuerst verstand Erika nicht. Aber dann ... ihr wurde übel.
Erika wusste nicht genau, wie lange sie schon hier war, in diesem Dorf vergingen die Tage immer gleich. Sie war sich selbst nicht einmal sicher, ob sie überhaupt wegwollte. Und wenn ja, wohin. Sollte sie versuchen, bis in die Stadt zu kommen? Zurück in die Missionsstation? Josefa würde schnell erkennen, dass Erika schwanger war, und ohne Reinhard als Vater ... Und überhaupt, wenn sich in der Stadt herumgesprochen hatte, was auf Bel Avenier geschehen war, würde man sie sofort verhaften, sobald sie einen Fuß hineinsetzte.
Oder sollte sie noch einmal versuchen, ihren Mann zu finden? Erika hatte jetzt seit fast zwei Jahren nichts von ihm gehört und vermisste ihn schrecklich. All ihre Fragen auf Bel Avenier und bei mit den van Drags befreundeten Familien, Plantagennachbarn oder handelnden Buschnegern hatten nichts ergeben. Keine Spur von Reinhard. War er überhaupt noch am Leben?
Sie könnte natürlich auch versuchen, auf einer weit von Bel Avenier entfernten Plantage unterzukommen. Sie war sich fast sicher, dass sich ihre Flucht herumgesprochen hatte, selbst in weiter entfernten Regionen. Die Leute saugten alle Neuigkeiten gierig auf, und Ernst van Drag kannte schließlich eine Menge Leute, die ihm die Geschichte von der »unzuverlässigen Hauslehrerin« abkaufen würden, wenn er ihnen nicht sogar noch Schlimmeres erzählte. Zudem würde sich ihre Schwangerschaft nicht mehr lange verbergen lassen. Was wirklich auf Bel Avenier vorgefallen war, das würde sie nie jemandem erzählen. Schaudernd überkam sie jedes Mal tiefste Scham, wenn sie daran zurückdachte, was Ernst van Drag ihr angetan hatte. Schnell verdrängte sie dann die Gedanken. Im Notfall auch mit einem Schluck dieses widerwärtigen Tranks aus der Kalebasse.
Nein, eigentlich hatte sie keine richtige Wahl. In Anbetracht der Alternativen fühlte sie sich, und vor allem Reiner, hier sicherer und besser aufgehoben.
Der Junge fühlte sich bei den Oayanas sichtlich wohl. Er war nicht in der Hütte gewesen, als sie aufwachte, aber sie hatte inzwischen keine Angst mehr um ihn. Zunächst hatte sie immer Insektenstiche, Schlangenbisse oder gar Schlimmeres gefürchtet, aber einer der Erwachsenen war stets in der Nähe der Kinder, und Reiner schloss sich seinen Spielgefährten sorglos an.
Jaminala hatte sie zur Ruhe gemahnt. Sie hatte mit der Hand im Dorf einmal in die Runde gewiesen und Erikas Sorge mit dem schlichten Satz kommentiert: »Wir alle hier groß geworden, groß und gesund. Du nicht so viel Sorge machen.«
Und Erika musste Jaminala wieder einmal recht geben. Im Dorf waren alle Bewohnter wohlgenährt und strotzten vor Gesundheit. Selbst die Ältesten befanden sich in bester Verfassung. Der piaai des Dorfes, der Medizinmann, hatte nicht viel zu tun.
Erika war inzwischen vollkommen von der hier herrschenden
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