Im Land der weissen Rose
nickte und strich dem Jungen übers Haar. David wirkte
so jung. George musste unweigerlich an das Kind denken, mit dem seine
Elizabeth gerade schwanger ging. In ein paar Jahren würde er
vielleicht auch so einen Sohn haben – so eifrig, so tapfer,
aber hoffentlich unter einem besseren Stern geboren als dieser junge
Mann hier. Was mochte Lucas in David gesehen haben? Den Sohn, den er
sich wünschte? Oder eher den Liebhaber? George war nicht dumm,
und er kam aus der Großstadt. Gleichgeschlechtliche Neigungen
waren ihm nicht fremd, und Lucas’Auftreten – dazu
Gwyneiras jahrelange Kinderlosigkeit– hatten von Anfang an den
Verdacht in ihm geschürt, der junge Warden sei eher Knaben als
Mädchen zugeneigt. Nun, ihn ging das nichts an. Und was David
betraf, ließen die verliebten Blicke, die er Daphne zuwarf,
keinen Zweifel an seiner sexuellen Orientierung. Daphne erwiderte
diese Blicke jedoch nicht. Eine weitere unvermeidliche Enttäuschung
für den Jungen.
George dachte kurz nach.
»Hör zu, David«, sagte er dann. »Lucas
Warden ... Luke Denward ... war nicht so allein auf der Welt, wie du
geglaubt hast. Er hatte Familie, und ich denke, seine Frau hat das
Recht darauf, zu erfahren, wie er gestorben ist. Wenn es dir wieder
gut geht, wird im Mietstall ein Pferd auf dich warten. Dann reitest
du in die Canterbury Plains und suchst nach Gwyneira Warden auf
Kiward Station.Wirst du das tun ... für Luke?«
David nickte ernsthaft. »Wenn Sie meinen, dass er es gewollt
hätte.«
»Das hätte er sicher gewollt, David«, erwiderte
George. »Und hinterher reitest du nach Christchurch und kommst
in meine Firma. Greenwood Enterprises. Da wirst du zwar kein Gold
finden, aber einen einträglicheren Job als den als Stallbursche.
Wenn du ein kluger Junge bist – und das bist du bestimmt, sonst
hätte Lucas dich nicht protegiert – kannst du es auf Dauer
zu Wohlstand bringen.«
David nickte wieder, diesmal jedoch unwillig.
Daphne dagegen warf George einen freundlichen Blick zu.
»Sie werden ihm einen Job geben, in dem er sitzen kann,
nicht wahr?«, meinte sie, als sie den Besucher schließlich
hinausführte. »Der Barbier sagt, er wird immer hinken, das
Bein ist kaputt. Auf dem Bau und im Stall kann er nicht mehr
arbeiten.Aber wenn Sie ihm eine Stelle im Büro beschaffen ...
dann kommt er auch auf andere Gedanken, was Mädchen angeht. Es
war gut für ihn, dass er nicht auf Luke abfuhr, aber ich bin
auch nicht die passende Braut.«
Sie sprach ruhig und ohne jede Bitterkeit, und George verspürte
ein leises Bedauern, dass dieses tatkräftige, kluge Geschöpf
ein Mädchen war.Als Mann hätte Daphne in dem neuen Land ihr
Glück machen können.Als Mädchen konnte sie nur das
sein, was sie wohl auch in London geworden wäre – eine
Hure.
Es sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen, bevor Steinbjörn
Sigleifson die Schritte seines Pferdes wirklich über die
Auffahrt von Kiward Station lenkte. Der Junge hatte lange im Bett
gelegen und dann erst mühsam wieder gehen lernen müssen.Außerdem
war ihm der Abschied von Daphne und den Zwillingen schwer gefallen –
auch wenn die Mädchen ihm jeden Tag zuredeten, nun endlich
aufzubrechen. Letztendlich war ihm aber gar nichts anderes übrig
geblieben. Miss Jolanda verlangte nachdrücklich, dass er das
Zimmer in ihrem Bordell räumte, und Mr. Miller erlaubte ihm
zwar, sein Lager wieder im Stall aufzuschlagen, aber eine
Gegenleistung dafür konnte er nicht mehr erbringen. Überhaupt
gab es in ganz Westport keine Arbeit für einen Krüppel –
die hartgesottenen Coaster hatten ihm das schonungslos mitgeteilt.
Dabei bewegte der Junge sich schon wieder ganz geschickt, doch er
hinkte stark, und lange konnte er nicht auf den Beinen sein.Also war
er schließlich losgeritten – und stand nun fassungslos
vor Staunen vor der Fassade des Herrenhauses, in dem Lucas Warden
gelebt hatte. Nach wie vor hatte er keine Ahnung, weshalb sein Freund
Kiward Station verlassen hatte, aber er musste gewichtige Gründe
gehabt haben,einen solchen Luxus aufzugeben. Gwyneira Warden mochte
ein ziemlicher Drache sein! Steinbjörn – nachdem er Daphne
verlassen hatte, sah er keinen Grund, weiter an dem Namen David
festzuhalten – überlegte ernsthaft, unverrichteter Dinge
kehrtzumachen. Wer konnte schon sagen, was er sich von Lukes
Weitere Kostenlose Bücher