Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
Hülsen waren.
Am späten Nachmittag setzte die Alligator mit der beginnenden Flut die Segel und verließ die Bucht am East Cape. Der Auftrag der Krone war erledigt, jetzt sollte die menschliche Beute zurück an die Themse geschleppt werden. Hoffentlich machte sich wenigstens jemand die Mühe, Oaoiti die Grundlagen der englischen Lebensweise nahezubringen …
Kaum war das Segel hinter dem Horizont verschwunden, tauchten auch schon die ersten Stammesmitglieder aus dem Busch auf. Erst vereinzelt, dann zu zweit oder in Grüppchen. Sie wirkten wie erstarrt, liefen durch das Pa, als seien sie nur die Geister der Menschen, die sie früher waren. Es kamen fast alle Frauen des Stammes und auch einige alte Männer. Doch von den jungen Kriegern hatten nur drei den Angriff der Engländer überlebt.
Die Heilerin kümmerte sich um kleine Wunden und sah auch nach Anne. Aber hier konnte sie nur zufrieden nicken. »Ihr beide seid stark!«, erklärte sie – und machte sich wieder auf den Weg, um bei den Beerdigungen zu helfen.
David half, so gut er konnte, und Anne hoffte, dass ihre Tochter nichts von allem um sie herum mitbekam – die ersten Tage ihres jungen Lebens waren beherrscht vom Wehklagen der Frauen und den Gesängen und Tänzen zur Beerdigung der vielen Toten.
Als Anne spürte, dass ihr Körper wieder bei Kräften war, hatte sie nur noch einen Wunsch: Sie wollte weiterziehen, diesen Ort des Todes hinter sich lassen. Und so verabschiedete sie sich an einem sonnigen Frühlingstag von all denen, die von »ihrem« Stamm übrig waren. Sie wanderte mit Charlotte im Arm ein letztes Mal durch den Pa und besuchte all die Stellen, die für so viele Monate die wichtigsten Orte in ihrem Leben waren. Die Küche, Lottys Hütte, der Strand … Sie konnte sich nicht vorstellen, hier auch nur ein einziges Mal zurückzukehren.
Schließlich ging sie zu dem kleinen Boot, an dem David schon wartete, um sie endlich an Bord der Isabella nach Süden zu bringen. Anne schloss Sarah in ihre Arme. »Pass gut auf dich auf!«, flüsterte sie ihr noch zu.
Dann wandte sie sich um und brach auf, mit ihrer kleinen Tochter im Arm. Die sichere und helle Zukunft konnte jetzt nicht mehr weit sein. Das hoffte sie aus tiefstem Herzen.
TEIL IV
EAST CAPE, 1833
27.
Die kleine Schaluppe bohrte ihren Bug in den feinen Sand. Ein schmaler Mann in einer abgeschabten Uniform der britischen Krone sprang heraus, zerrte an einem Tau und holte sie so die letzten Meter auf den Strand. Sein Begleiter kletterte sehr viel schwerfälliger über die Bordwand, machte einige mühsame Schritte und sah sich dann in der malerischen Bucht neugierig um.
»Und du bist dir sicher, dass es hier ist?« Seine Stimme verriet mehr als nur ein paar Zweifel.
»Sicher. Ich habe es mir genau auf einer Karte eingezeichnet, wo wir das Paar zurückgelassen haben. Hier direkt am östlichen Kap soll es gewesen sein. Ist natürlich inzwischen ein Weilchen her … Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die sehr weit gekommen sind. Wo soll man in dieser Gegend schon hin?« Er deutete auf den dichten dunkelgrünen Busch, der die Hügel wie ein Teppich bedeckte.
»Sie hatten ein Schiff, schon vergessen?«, knurrte der Hinkende.
»Trotzdem … Ich bin mir sicher, dass Wilcox und seine Frau immer noch hier in der Gegend sind! Die hat immerhin ein Baby bekommen. Frauen reisen dann nicht mehr gerne, hab ich gehört.« Der Soldat suchte sorgfältig das Ufer ab und entdeckte einen schmalen Pfad, der in ein kleines Tal führte. »Hier muss es sein. Kommt.«
Gregory folgte ihm sehr langsam, fest auf seinen dunklen Gehstock gestützt. Der geplante Aufbruch in den Süden hatte sehr viel länger gedauert, als er jemals angenommen hätte. Niemand hatte von den beiden Flüchtlingen etwas gewusst. Gregory war ungeduldig auf eigene Faust mit dem kleinen Schiff und einem angeheuerten Matrosen in den Süden aufgebrochen. Immer die Westküste der Südinsel entlang, bis er auf unwegsame Fjorde gestoßen war, an denen nun wirklich kein Siedler, der auch nur einen Funken Verstand besaß, sein Haus bauen würde. Egal, wie unglaublich großartig diese Landschaft war – sie wirkte auch unnahbar und menschenfeindlich. Als dann auch noch ein gewaltiger Gletscher fast bis an das Meer reichte, war klar geworden: Er suchte an der falschen Stelle. Er musste mit seiner kleinen Schaluppe wieder zurück nach Kororareka und sich damit abfinden, dass er Monate mit der Reise in die falsche Richtung vertan hatte.
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