Im Land des weiten Himmels
den Verbleib ihres Onkels erfahren. »Um ehrlich zu sein, würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Auch die Indianer glauben, dass er tot ist.«
»Ich weiß«, sagte Hannah, und der Postreiter sah sie seltsam an.
Hannah bat ihn auf einen Kaffee ins Haus und setzte sich zu ihm. Sie berichtete von dem Brief und dem Gold, das sie vergeblich in der Schatulle gesucht hatte.
»Das hat er bestimmt bei sich«, vermutete er. »Die Goldsucher, die ich kenne, verstecken ihr Gold entweder an einem sicheren Platz, bringen es auf die Bank oder schleppen es mit sich herum, wenn es nicht zu viel ist.« Er nippte an seinem Kaffee und wirkte plötzlich sehr besorgt. »Könnte sein, dass jemand Wind davon bekommen und ihm irgendwo aufgelauert hat. Er bringt ihn um, nimmt ihm das Gold ab und lässt die Leiche verschwinden … Das würde auch erklären, warum wir ihn nirgendwo finden.« Er trank wieder einen Schluck und blickte sie prüfend an. »Ohne das Gold besitzen Sie keinen Penny, stimmt’s?«
»Ein paar Dollar«, antwortete sie. Es klang kein bisschen resigniert. »Aber wenn Sie glauben, dass ich deswegen aufgebe und mit Ihnen nach Fairbanks reite, haben Sie sich geschnitten. Ich bleibe hier.« Sie reichte ihm die Einkaufsliste. »Das sind die Sachen, die ich am dringendsten brauche. Und hier sind zwei Briefe. Der eine ist für meine Freundin in New York. Den anderen geben Sie bitte der Bank. Sie sollen mir einen Kredit geben. Ich hab alles aufgeschrieben. Sobald ich wieder in die Stadt komme, würde ich den Papierkram erledigen. Hauptsache, ich bekomme das Geld, und Sie können mir die Sachen liefern. Wenn sich die Bank querstellt, versuchen Sie es beim Besitzer des Gemischtwarenladens. Und wenn der auch nicht will … Dann muss ich mir was anderes einfallen lassen. Auf keinen Fall gehe ich von hier weg.«
»Na, Sie haben Nerven«, erwiderte der Postreiter fast bewundernd mit Blick auf die Einkaufsliste. »Und Sie glauben wirklich, ich könnte einen Kredit für Sie organisieren, ohne dass Sie dabei sind, ohne dass es irgendwelche Sicherheiten für die Bank gibt? Sie sind mir ja ein Herzchen.«
Hannah lächelte zuversichtlich. »Ich habe großes Vertrauen in Sie, Buddy. Sie kennen die Leute doch alle. Lassen Sie sich was einfallen, aber bitte sorgen Sie dafür, dass ich die Sachen bekomme, sonst weiß ich nicht, was ich machen soll. Ich bin quer durch Amerika gefahren, um ein neues Leben anzufangen, und ich denke nicht daran, jetzt schon aufzugeben. Sie bekommen auch was von dem Gold ab.« Hannah reichte ihm zwei Dollar, die er, ohne sie anzusehen, in seine Hosentasche schob.
»Wenn Sie es jemals finden.«
»Ich kann nicht ständig Pech haben, Buddy. Auf Regen folgt Sonnenschein, schon mal gehört? Haben Sie noch Dosenmilch?«
»Zwei Dosen. Wieso?«
»Ich mag keinen schwarzen Kaffee.«
Sie gingen gemeinsam nach draußen, und er zog die Dosen aus einer seiner Satteltaschen. »Nehmen wir mal an, ich schaffe es tatsächlich, Ihnen einen Kredit zu besorgen …« Er schwang sich auf sein Maultier. »So viele Packtiere, um Ihnen den ganzen Kram zu bringen, besitze ich gar nicht, und Betten sind für die armen Biester zu schwer, selbst wenn ich sie zerlege. Aber Schwester Becky fährt in drei oder vier Wochen mit dem Boot zum Dorf von Chief Alex. Falls es klappt, lasse ich einige Sachen an Bord schaffen. Ich werde ungefähr zur gleichen Zeit kommen. Passen Sie gut auf sich auf, Missy!«
»Hannah oder …«
»… Miss, ich weiß. Bis bald, Lady!«
19
Die nächsten Tage verbrachte Hannah damit, Vorhänge und einfache Tischdecken zu nähen. Ihr Onkel hatte Geschmack bewiesen und einen gemusterten Stoff ausgesucht, der auch ihr gefiel und den Gastraum des Roadhouse wesentlich gemütlicher machen würde. Sie hatte keine Ahnung, wie Fallensteller und Jäger darauf reagieren würden, war aber zuversichtlich, dass die bunten Vorhänge auch bei harten Männern ankamen. Die meisten Männer, hatte sie herausgefunden, waren gar nicht so hart und unbeugsam, wie sie sich gaben, und hielten sich gern in einem gemütlich eingerichteten Raum auf. Nach dem Mittagessen, das nur aus einem Zwieback und einer Scheibe Schinken bestand, nähte sie auf der Veranda weiter. Das Wetter war erstaunlich schön, die Sonne strahlte von einem blauen Himmel herab, und mit einer Wolldecke auf dem Schoß machte Hannah auch der frische Wind nichts aus. Die Wildblumen leuchteten so intensiv wie lange nicht mehr und verwöhnten sie mit ihrem
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