Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
spielen.
Die Proben glichen jedoch einem Match – Angriffe, Treffer, Siege, Tränen, Aufbrausen, Verstehen. Es waren die extremsten Proben meiner gesamten Laufbahn. Er zweifelte an mir, misstraute meinem Spiel. Für ihn war wohl die Art von uns Ost-Schauspielern ungewohnt, ohne Erfolgsgier unsere Erfahrungen in die Arbeit einzubringen. Aber offenbar beeindruckte ihn meine Kraft, mich seine geniale Textarbeit. Diese Zeit empfand ich als wild, verzweifelt und anrührend zugleich. Peymann arbeitete am Text, an Betonungen, ich versuchte zu spielen. Wir probten monatelang, es gab kaum eine Pause. Er war unerbittlich, wir kämpften für- und gegeneinander. Einmal habe ich die Perücke auf die Bühne geschmissen und die Probe verlassen, bin nach Hause gegangen. An dem Tag konnte ich seine Worte nicht einfach hinnehmen und wegstecken. Ich war verletzt und beleidigt, bin erst am nächsten Tag wiedergekommen. Und habe mir ein dickeres Fell gestrickt.
Ich weiß nicht, ob die Probenarbeit, die ich kannte, gut oder schlecht war – mitarbeiten, mitdenken, Texte auf der Probe lernen. Das galt nun nicht mehr. Absolute Textsicherheit auf der Probe, zuhören, ausführen, wiederholen, lange Proben, abends Vorstellung, endlose Kritiken – so lief es jetzt. Niemand wird so viel kritisiert wie Schauspieler. Kritisiert zu werden schmerzt, doch es provoziert und setzt ungeahnte Kräfte frei. Der kreative Zorn inspiriert wiederum den Regisseur, der behauptet, da sei noch mehr drin, da kann ich noch mehr rausholen. Aber wenn einer wie Claus Peymann Formel 1 fährt, will ich mit im Rennen sein und siegen.
Er lobte ungern, forderte das Äußerste. Ordnete auch am 24. Dezember eine Probe an. Die Stimmung tendierte gen Null, ich setzte mir den Heldenhut auf und schlug ihm vor, mit mir allein zu probieren. Etliche Kolleginnen und Kollegen hatten schließlich Flüge und Bahnfahrten gebucht, um das Fest zu Hause zu verbringen. Er nahm das Angebot an, vielleicht um mich auf die Probe zu stellen oder was weiß ich, jedenfalls arbeitete er tatsächlich mit mir alleine bis kurz vor 17 Uhr. Und ließ mich dann von seinem Fahrer zu meinen Kindern bringen.
Dieser Mann hatte mal geraucht, Bart und Parker getragen, sei ein Achtundsechziger gewesen, hörte man. Wie konnte er nun so preußisch sein, so unbedingte Disziplin fordern? Was hat ihn derart verändert? Ich weiß es nicht. Aber ich dachte immer mal wieder darüber nach, wenn ich mir von ihm so schrecklich ungeliebt vorkam. Ich will, wie jeder Schauspieler, geliebt werden, auch vom Regisseur. Natürlich bin ich zerbrechlich, aber es zählt nur ein guter Schauspieler, der Mensch muss draußen bleiben, wenn er die Bühne betritt.
So manches Mal hätte ich mir einen Boxenstopp gewünscht, aber es ging immer weiter. Schwäche wird nicht akzeptiert. Jeder ist ersetzbar, das erfährt man bei einer Krankheit, dann erfolgt eben eine Umbesetzung, der Lappen geht hoch auch ohne dich, the show must go on, schließlich will der Regisseur auch geliebt werden.
Bei einer Probe sprachen wir darüber, dass diese Pelageja Wlassowa an den lieben Gott glaubt. Da machte es klick in mir: Sie ist eine ganz einfache Frau. Also muss ich mich runterschrauben, eine ehrliche Haut sein und schlicht im Denken. Als dann diese wundgeschlagene Frau ganz allein dasteht und endlich etwas begriffen, das Mitgefühl der Zuschauer entzündet hat, war das bestürzend und aufrüttelnd. Brecht hat diesen Dialog witzig aufgebaut; am Ende der Szene sagt die Mutter, sie glaube an Gott, sei gegen Gewalt und deshalb müsse man der Polizei mit einer friedlichen Demonstration antworten, und auf die Tafeln müsse man Forderungen schreiben, dann könne nichts passieren. Genauso war es am 4. November in Berlin geschehen.
Die Zuschauer spürten den Zeitbezug, und sie entdeckten den Spaß früher als die Wlassowa: Die jungen Genossen erklären ihr Ökonomie und Klassenkampf, und sie fragt in ihrer Naivität immer wieder nach, so schlau, so provokant – das Publikum amüsierte sich, ahnte die nächste Frage der Mutter bereits, war ihr genau vier Sekunden voraus – vier Sekunden!
Vielleicht hat es mit der politischen Situation zu tun, dass wir Brecht wieder brauchen. Er ist frappierend aktuell. »Der Kapitalismus ist krank und du bist der Arzt. Du bist also für die Annahme der Lohnkürzung?«, heißt es im Stück. Das gilt doch heute mehr denn je! Und das hat Brecht 1931 nach dem Roman von Gorki geschrieben!
Die Mutter wurde ein Erfolg, und
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